Europäische Sozialsysteme in ihrer Verschiedenheit

1. Alles Europa oder was?

Das europäische Sozialmodell wird oft dem US-amerikanischen gegenübergestellt – nicht ganz zu Unrecht: Staatliche oder durch öffentliche Selbstverwaltungen organisierte Sozialsysteme haben in Europa eine stärkere Bedeutung als in den USA, wo öffentliche Sozialsysteme weniger und private Sicherungsformen mehr Relevanz haben. Wird der Begriff des Sozialsystems weiter ausgelegt, kommt hinzu, dass das europäische sich vom US-amerikanischen durch eine andere Regulationsweise auszeichnet: Der öffentliche Sektor hat in Europa einen größeren Stellenwert, die institutionelle Verankerung der Gewerkschaften im zivilgesellschaftlichen und politischen Bereich ist stärker ausgeprägt, und die industriellen Beziehungen sind in höherem Maße kollektiv und flächendeckend reguliert, als es in den USA der Fall ist (vgl. Bischoff/Detje 2007, S. 9 f.).

Gleichwohl sollte nicht der Blick dafür verstellt werden, dass es den europäischen Kapitalismus und das europäische Sozialsystem nicht gibt. Vielmehr bestehen auch innerhalb der EU große Unterschiede zwischen den Sozialsystemen. Teils sind die Unterschiede zwischen den Ländern der EU sogar größer als jene zwischen dem europäischen Durchschnitt und den USA (vgl. Alber 2006, S. 227). Im Folgenden soll ein knapper Überblick über die Unterschiede innerhalb der EU gegeben werden. Zudem soll angerissen werden, was bei der Erarbeitung einer linken Antwort auf die bestehende Vielfalt europäischer Sozialsysteme zu beachten ist.

2. Abgrenzungen landesspezifischer sozialer Sicherungssysteme

In der wissenschaftlichen Debatte findet sich eine Vielzahl an Abgrenzungen von Sozialsystemen, was Ausdruck von deren Vielschichtigkeit ist. Diese unterscheiden sich danach, ob die Finanzierung über Steuern, Beiträge oder Prämien erfolgt. Sodann gibt es verschiedene Formen der Zirkulation der Mittel: einerseits die Umlagefinanzierung, bei der Einnahmen unmittelbar an die Transferempfänger weitergeleitet werden, andererseits die Kapitaldeckung, bei der Einnahmen auch verzinslich angelegt und um den Gewinnanspruch der Privatversicherungen gekürzt an die Transferempfänger ausgezahlt werden. Beträchtliche Differenzen gibt es in Europa auch bei Leistungshöhe und Dauer des Leistungsanspruchs sowie mit Blick auf die Frage, ob die Ansprüche aus dem Sozialsystem garantiert oder an die Erfüllung von Bedingungen geknüpft sind. Erhebliche Unterschiede lassen sich beim Verhältnis von Einzahlung und Auszahlung konstatieren: Es gibt das Äquivalenzprinzip, dem zufolge Ein- und Auszahlung in einem mehr oder weniger ausgeprägten funktionalen Zusammenhang stehen, das Solidarprinzip, wonach die Leistungshöhe unabhängig von der Höhe der Einzahlung ist, und das Risikoprinzip, bei dem trotz gleicher Leistungsansprüche die Finanzierung sich nach der Risikoklasse der Versicherten bemisst. Schließlich lassen sich staatliche Sozialsysteme, öffentliche Selbstverwaltungseinrichtungen, Privatversicherungen und Betriebsversicherungen unterscheiden.

Jedem dieser Kriterien sind mehrere Alternativen zugeordnet, so dass es viele theoretische Kombinationen der Kriterien gibt. Keines der Sozialsysteme der knapp 30 EU-Staaten gleicht exakt dem anderen, vielmehr herrscht ein Kessel Buntes an Sozialsystemen. Um den Wald vor lauter Bäumen nicht zu übersehen und trotz aller Unterschiede ähnliche Muster verschiedener Ländern kategorial zu identifizieren, wird oftmals mit Typologien operiert, die die Grundblöcke sozialstaatlicher Systeme voneinander abgrenzen sollen (vgl. Schmid 2002, S. 69-100).

Eine mögliche Typologie ist die Unterscheidung zwischen primär beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystemen in der Tradition der Bismarckschen Sozialgesetzgebungen und primär steuerfinanzierten Fürsorgesystemen in der Tradition des britischen Lord Beveridge. In idealtypischer Anordnung werden der Bismarckschen Konzeption folgende Merkmale zugeschrieben: Versicherung nur der Arbeitnehmer, Verbeitragung der Lohneinkommen, paritätische Verwaltung der Mittel durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, finanzielle Kompensation privat angebotener Leistungen im Gesundheitssystem sowie niedriges Transferniveau. Der Konzeption des Fürsorgesystems werden gängigerweise folgende Charakterzüge attestiert: Versicherung aller Bürger, Finanzierung durch Besteuerung aller Einkünfte, staatliche Verwaltung der Mittel, kostenlos und staatlich angebotene Leistungen im Gesundheitssystem sowie hohes Transferniveau (vgl. ebenda, S. 88 f.).

Dass eine solche idealtypische Zuordnung von Merkmalen in der Realität auch anzutreffen ist, soll nicht bestritten werden – auch nicht, dass manche Merkmale gehäuft kombiniert vorkommen, etwa lohnbezogene Beiträge in Kombination mit paritätischer Verwaltung bei beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystemen oder steuerfinanzierte Leistungen in Begleitung von kostenlosen Angeboten bei Fürsorgesystemen. Dennoch ist hieraus nicht zu folgern, eine solche Kombination von Merkmalen sei zwingend. Empirisch sind auch steuerfinanzierte Fürsorgesysteme anzutreffen, die sich durch niedriges Transferniveau auszeichnen, etwa die niederländische Grundrente, die durch Zusatzversorgungen ergänzt werden muss, um einen angemessenen Lebensstandard im Alter zu sichern (vgl. ebenda, S. 187 f.). Vorfindbar sind auch beitragsfinanzierte Systeme mit hohem Transferniveau, etwa die dänische Arbeitslosenversicherung, bei der vor allem Arbeitgeber lohnbasierte Beiträge entrichten (vgl. ebenda, S. 130 ff.).

Ein behutsamer Umgang empfiehlt sich auch mit der Typologie des dänischen Sozialstaatsforschers Esping-Andersen. Dieser unterscheidet zwischen dem „sozialdemokratischen“ nordischen, dem „konservativen“ deutschen und dem „liberalen“ englischen Wohlfahrtsstaat (vgl. Esping-Andersen 1990 und 1999, S. 85). Auch hier gibt es Tendenzen, die eine solche Kategorisierung rechtfertigen. Es gibt nordische Länder, in denen sozialdemokratische Parteien Sozialsysteme etabliert haben, deren Leistungen universalistisch an alle Bürger unabhängig vom familialen Status gezahlt werden und wo die Rolle des Marktes durch politische Interventionen eingeschränkt wird. In der BRD wiederum lassen sich Tendenzen feststellen, wonach christdemokratische Parteien an der Errichtung von Sozialsystemen mitgewirkt haben, bei denen zwar auch die Rolle des Marktes modifiziert wird, bei denen aber anders als in Skandinavien die Gewährung von Leistungen nicht universalistisch ist, sondern der Ehestatus mal Vor-, mal Nachteile gewährt. So wirken bei der Gesetzlichen Arbeitslosenversicherung die Einkünfte des Lebenspartners mindernd auf die Sozialleistung des Arbeitslosen, wohingegen umgekehrt derjenige, der verheiratet ist und nicht arbeitet, in der Gesetzlichen Krankenversicherung kostenlos mitversichert wird. Liberale Wohlfahrtsstaaten wie England unterscheiden sich in der Typologie Esping-Andersens tendenziell dadurch von den beiden genannten Typen, dass hier marktbezogene Versicherungsformen dominieren.

Auch für die Typologie Esping-Andersens gilt, dass sie zwar Punkte trifft, jedoch nicht absolut gesehen werden darf. Denn es gibt Fakten, die quer zu Esping-Andersens Typologie stehen: Das Gesundheitssystem des vermeintlich liberalen Englands etwa basiert auf kostenlosen staatlichen, nicht marktförmigen Angeboten (auf allerdings teils bescheidenem qualitativem Niveau). Beim schwedischen Rentensystem wiederum erhalten hohe Renten nur jene Personen, die beschäftigt sind und durch ihre Arbeitgeber Zusatzbeiträge abführen können. Kurzum: Es kommt immer auf den Einzelfall an – eine eindeutige Zuordnung von Ländern zu einem idealtypischen Block ist nicht sinnvoll.

Diese Buntscheckigkeit wird dadurch verstärkt, dass es auch innerhalb eines Landes unterschiedlichste Kombinationen besagter Kriterien gibt, wenn die jeweiligen Teilsysteme betrachtet werden. Die Krankenversicherung eines Landes gehorcht eben nicht derselben Logik wie etwa die Renten- oder Arbeitslosenversicherung.

3. Unterschiede innerhalb eines Landes: das Beispiel BRD

Welche Vielfältigkeit sich auch innerhalb eines Landes beim Vergleich von Teilsystemen sozialer Sicherung feststellen lässt, zeigt das Beispiel der Bundesrepublik. Bei der Gesetzlichen Arbeitslosenversicherung gibt es die paritätische Beitragsfinanzierung des ALG 1 und die Steuerfinanzierung des ALG 2. Da sich beim ALG 1 die Leistungshöhe proportional zum vorherigen Nettoarbeitseinkommen verhält, liegt hier das Äquivalenzprinzip vor. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass zwar ein äquivalenter Zusammenhang zwischen vorherigem Einkommen als Bemessungsgrundlage der einzuzahlenden Beiträge und auszuzahlendem ALG 1 besteht, dass aber keine Äquivalenz zwischen Dauer der Einzahlung und Höhe der Auszahlung besteht. Dies weist darauf hin, dass der Begriff der Äquivalenz einer genauen Bestimmung bedarf.

Beim ALG 2 hingegen herrscht das Solidarprinzip vor, da unabhängig vom vorherigen Einkommen jeder den gleichen Regelsatz erhält – allerdings auf niedrigem Niveau. Sowohl beim ALG 1 wie auch ALG 2 ist die Leistungsgewährung konditioniert und tendenziell repressiv, da sie an die Bereitschaft der Leistungsempfänger zur Annahme angebotener Arbeiten geknüpft ist, deren Zumutbarkeitsrahmen von den Behörden festgelegt wird.

Bei der Gesetzlichen Krankenversicherung handelt es sich um eine durch Arbeitnehmeraufschlag leicht eingeschränkte paritätische Beitragsfinanzierung, die durch steuerfinanzierte staatliche Zuschüsse und private Zuzahlungen der Versicherten ergänzt wird. Das hier obwaltende Prinzip ist eine Variante des Solidarprinzips, genauer: das Sachleistungsprinzip. Unabhängig vom Einkommen (mit Ausnahme des Krankengeldes) erhält jeder Versicherte die Gesundheitsleistungen, deren er nach Auffassung der Kassen, der kassenärztlichen Vereinigungen und der Politik medizinisch bedarf – dies kann weniger als nötig sein. Die gewährten Leistungen sind nicht konditioniert.

Zum Vergleich: Bei den privaten Krankenversicherungen erfolgt die Finanzierung über risikogestaffelte Prämien incl. Altersrückstellungen. Wer ein höheres Risiko aufweist, muss mehr zahlen. Die Mittel werden nicht nur an die Versicherten ausgeschüttet, sondern auch auf dem Kapitalmarkt angelegt. Ein Teil der Prämien und der Zinseinnahmen verbleibt als Gewinn in den Versicherungen selbst bzw. wird an deren Aktionäre ausgeschüttet. Die gewährten Leistungen sind wie bei der Gesetzlichen Krankenversicherung unkonditioniert. Neben der Risikostaffelung besteht ein weiterer Unterschied zu Gesetzlichen Krankenversicherungen darin, dass letztere Beschäftigte mit einem Einkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze pauschal aufnehmen müssen, wohingegen Privatversicherungen Beschäftigte oberhalb der Versicherungspflichtgrenze und Selbständige nur dann aufnehmen müssen, wenn diese deren Basistarif akzeptieren.

Bei der Gesetzlichen Rentenversicherung liegt paritätische Beitragsfinanzierung vor, die ebenfalls durch steuerfinanzierte staatliche Zuschüsse aufgestockt wird. Das Rentenniveau ist mittlerweile deutlich abgesenkt worden – und zwar politisch gewollt, so dass die Versicherten, wenn sie es sich denn leisten können, zu einem Großteil dazu veranlasst werden, private Zusatzrentenverträge abzuschließen. Die Gesetzliche Rentenversicherung ist durch das Äquivalenzprinzip geprägt: Wer mehr und länger einzahlt, erwirbt mehr Entgeltpunkte und damit eine höhere Rente. Dies gilt auch in die umgekehrte Richtung, weswegen Personen, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist, vom Risiko der Altersarmut bedroht sind.

Das bundesdeutsche System zeichnet sich also durch eine vielfältige Mixtur aus Äquivalenz-, Solidar-, Sachleistungs- und Risikoprinzip aus, ist teils beitrags-, teils prämien-, teils steuerfinanziert und weist in der Tendenz, namentlich beim ALG 2 und der Rente, sinkende Niveaus auf. Die Bundesrepublik sei hier als pars pro toto genommen – die beschriebene Vielfalt kennzeichnet auch andere Länder und unterstreicht, dass sich simple Kategorisierungen verbieten.

Die Linke steht angesichts der Veränderungen ökonomischer Rahmenbedingungen vor der schwierigen Aufgabe, sich in die Auseinandersetzungen um sozialpolitische Reformen sowohl auf nationalstaatlicher wie auf europäischer Ebene einzuschreiben (vgl. Bischoff/Detje 2007, S. 46 ff.). Dies erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Ökonomie und Sozialstaat, eine Antwort auf die Frage europäischer Angleichung und die Ausarbeitung von Kriterien eines linken Sozialstaatsmodells.

4. Zusammenhang von Ökonomie und Sozialstaat

Zum einen stellt die wirtschaftspolitische Steuerung der Ökonomie selbst einen Bestandteil des Sozialmodells dar, das nicht auf Sozialversicherungssysteme reduziert werden kann. Eine makroökonomische Steuerung kann beitragen zur Verstetigung des Wachstums, Abmilderung ökonomischer Krisen, Ausdehnung von Beschäftigung, Absicherung gegen Lebensrisiken, Umverteilung von oben nach unten und damit allgemein zur Stärkung der Kampfbedingungen der Lohnabhängigen. Die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik bildet damit neben den Sozialversicherungen einen wichtigen Baustein des Sozialmodells und damit der jeweils historisch spezifischen Regulation der kapitalistischen Produktionsweise (vgl. Hirsch 2005, S. 118 ff.). Dies gilt umso mehr, als die Ausgestaltung der Sozialsysteme selbst bedeutsame Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage als wichtigem Zielaggregat der Wirtschaftspolitik hat.

Zum anderen ist die Finanzierungsbasis der Sozialversicherungen auch an die ökonomische Performance rückgekoppelt. Sozialpolitik verfügt zwar über Freiheitsgrade, ist aber auch durch den ökonomischen Rahmen begrenzt. Sozialpolitik unterliegt der Budgetbedingung, dass die Ausgaben den Einnahmen entsprechen müssen. Die Pro-Kopf-Einnahmen des Sozialstaats ergeben sich aus einem durch einen Finanzierungssatz t geregelten Anspruch auf das Pro-Kopf-Einkommen Y/B. Dies ergibt sich als Produkt von Arbeitsstundenproduktivität Y/H, Arbeitsstunden je Erwerbstätigem H/E und Erwerbsrate der Bevölkerung E/B. Die Pro-Kopf-Ausgaben bemessen sich als Produkt von Sozialleistungshöhe je Sozialleistungsempfänger S/C und Anteil der Sozialleistungsempfänger an der Bevölkerung C/B (vgl. Ganßmann 2004, S. 380 f.).

Es gilt: t ∙ Y/H ∙ H/E ∙ E/B = S/C ∙ C/B.

Dies zeigt sich deutlich an einer Problematik, der jedes Sozialsystem unterworfen ist. In Zeiten steigender Arbeitslosigkeit sinkt die Erwerbsrate der Bevölkerung, ergänzt durch reduzierte Arbeitsstunden je Erwerbstätigem im Zuge von Kurz- und Teilzeitarbeit. Dies schmälert die Einnahmenbasis des Sozialsystems. Zugleich erhöht sich bei zunehmender Arbeitslosigkeit der Anteil der Sozialleistungsempfänger an der Bevölkerung – die Ausgabenseite der Budgetgleichung steigt. Das Sozialsystem gerät somit von zwei Seiten unter Druck (vgl. Zinn 1999, S. 56-60).

Daher muss die Linke das Ziel einer Wirtschaftspolitik für mehr qualitatives Wachstum offensiv zum Gegenstand ihrer politischen Agenda machen und darf sich programmatisch nicht auf die sozialpolitische Verteilung erzeugter Werte beschränken. Nötig sind eine Steigerung von Beschäftigung und Arbeitsproduktivität sowie eine Erhöhung des Finanzierungssatzes der Sozialpolitik. Während das Ziel steigender Beschäftigung und Arbeitsproduktivität auf linker wie rechter Seite proklamiert wird, treten Unterschiede auf, wenn es um die Frage geht, wie Beschäftigung und Arbeitsproduktivität erhöht werden können und welche Wirkung von höheren Sozialfinanzierungssätzen ausgeht.

Die Rechte deutet die Lage angebotspolitisch verkürzt: Höhere Sozialquoten werden nur als Abzug vom Profit vorgestellt – ihre Bedeutung für die Realisierung von Profit wird ausgeblendet. Ohne Bezug auf die Konsumnachfrage der Lohnabhängigen zu nehmen, wird behauptet, hohe Profite infolge niedriger Löhne seien die verteilungspolitische Bedingung für mehr Beschäftigung und mehr Investitionen, die zu einer Steigerung von Arbeitsproduktivität führten. Dieses angebotspolitische Mantra wird seit langem gepredigt und umgesetzt – mit fatalen Auswirkungen: die Ökonomie stagniert bei hoher Arbeitslosigkeit und zerfasernden sozialstaatlichen Strukturen in großen Teilen der EU (vgl. Bischoff 2006, S. 207 f.).

Alternativ dazu muss die Linke, will sie soziale Sicherheit und Gerechtigkeit erweitern, eintreten für mehr Binnennachfrage, höhere Lohneinkommen und öffentliche Transferleistungen, Arbeitszeitverkürzung, mehr öffentliche Beschäftigung und Investitionen, Re-Regulierung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sowie eine Neujustierung des Verhältnisses von Realökonomie und Finanzmärkten. Zu verdeutlichen wäre dabei, dass andere Verteilungsverhältnisse nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit sind, sondern auch funktionale Notwendigkeit für mehr Nachfrage und eine Revitalisierung der Wertschöpfung in den stagnierenden Ökonomien (vgl. Zinn 2006, S. 173 ff.; Bischoff 2006, S. 226 ff.).

5. Europäische Angleichung

Angesichts der Tatsache, dass die Europäische Kommission im Rahmen der „offenen Methode der Koordinierung“ eine Angleichung der europäischen Sozialsysteme durch Wettbewerb verfolgt, stellt sich für die europäische Linke nicht mehr die Frage, ob sie überhaupt für Angleichung ist, sondern: wie, in welche Richtung und wie schnell? Ein linkes sozialstaatliches Angleichungskonzept bedarf erst noch einer kollektiven Erarbeitung durch die europäische Linke, was mit erheblichen Anstrengungen verbunden sein dürfte. Allerdings lohnt es sich, einige Vor- und Nachteile einer politisch gesteuerten Alternative zur wettbewerbsinduzierten Angleichung gegenüberzustellen.

Die Vorteile einer sozialstaatlichen Angleichungsstrategie bestünden darin, dass möglicherweise Einheitlichkeit der sozialpolitischen Lebensverhältnisse in Europa auf hohem Niveau erzielt und ein leistungsstarker Anker gegen Abwertungswettläufe der nationalen Wettbewerbsstaaten geschaffen würde. Überdies würden die Europäer kollektiv und miteinander ihre Lebensverhältnisse abstimmen und damit eine europäisierte Form von Demokratie vorantreiben. Schließlich wäre eine erfolgreiche Vereinheitlichung auch eine adäquate Reaktion auf steigende Mobilitätswünsche der Menschen in Europa.

Es ist allerdings keineswegs gewiss, dass die Möglichkeit eines Erfolgs auch Wirklichkeit wird. Vielmehr besteht auch die Möglichkeit, dass Türen für eine Angleichung geöffnet würden, bei der für Menschen in Nationalstaaten mit besseren sozialstaatlichen Systemen Verschlechterungen einträten, ohne dass es für Menschen, die mit rudimentären sozialstaatlichen Systemen auf nationaler Ebene konfrontiert sind, zu Verbesserungen käme.

Einen neoliberalen Angleichungsprozess nach unten, forciert durch eine demokratisch wenig kontrollierte EU-Bürokratie, die auf nationalstaatlicher Ebene demokratische sozialstaatliche Spielräume aushebelt, ohne demokratische Partizipationsräume für soziale Regulierung auf europäischer Ebene zu ermöglichen, lehnen die Menschen aber zu Recht ab.

Die Linke muss kommunizieren, welche alternativen Formen europäischer Regulierung sie anstrebt. Hier bestehen folgende abzuwägende Optionen: Erstens könnten unverbindliche europäische Richtwerte für die Länder bei weitgehend autonomer Sozialstaatlichkeit auf nationaler Ebene gesetzt werden. Zweitens bestünde die Möglichkeit, die Autonomie von Sozialstaatlichkeit auf nationaler Ebene zwar aufrechtzuerhalten, diese aber durch europäische Pflichtvorgaben politisch einzuhegen, und zwar über Festwerte oder Schwankungsbreiten innerhalb von Korridoren. Eine dritte Variante wäre der Ersatz nationaler durch europäische sozialstaatliche Maßnahmen. Hinzu kommt die Möglichkeit, zusätzlich zur nationalstaatlichen eine europäische Sozialpolitik auszubauen, etwa über erweiterte EU-Kohäsionsfonds oder über die Gewährleistung der Übertragung von Ansprüchen bei Umzügen in der EU (vgl. Krätke 2002, S. 90 f.). Grundsätzlich besteht die Notwendigkeit, dass die europäische Linke über die berechtigte Ablehnung neoliberaler Politik hinaus endlich eine eigenständige Reformkonzeption für europäische Sozialstaatlichkeit entwickelt.

6. Kriterien linker Sozialstaatlichkeit

Ein linkes Sozialstaatsmodell auf europäischer Ebene ist auf die Formulierung von Kriterien angewiesen. Ein notwendiges lautet, dass Menschen ohne Arbeit, Einkommen und Vermögen einen Anspruch auf Mindestsicherung haben. Die Leistungen bislang bereits existierender Mindestsicherungen sind nach Höhe und Dauer anzuheben, und repressive Konditioniertheit ist abzubauen. Anspruch linker Politik muss es überdies sein, folgende neoliberale Praktiken von Sozialstaatlichkeit zu stoppen und zurückzunehmen: die Privatisierung der Finanzierung und Leistungserbringung sozialer Sicherungssysteme; die Umstellung von Mittelfinanzierung und -verteilung auf Kapitaldeckung; die Ausdehnung von Zuzahlungen und gedeckelten Arbeitgeberbeiträgen.

An die Stelle treten muss ein schlüssiges linkes Modell europäischer Sozialstaatlichkeit – hierüber eine Verständigung unter Linken zu erzielen dürfte genauso schwierig sein, wie den gemeinsamen Protest gegen Sozialabbau effektiv zu koordinieren. Der Konzipierung eines solchen Modells müsste die Absicht vorangehen, schematische Reflexe zu vermeiden. Es gilt etwa, dass weder Steuer- noch Beitragsfinanzierung per se gerechter ist und es immer auf die konkrete Verteilung der Einkommen und Lasten ankommt.

Selbiges gilt für den Zusammenhang von Einzahlung und Auszahlung. Die Alternative ›Äquivalenz- oder Solidarprinzip‹ ist nicht sinnvoll. Für das Äquivalenzprinzip spricht, dass hier der lebensstandardbezogene Zusammenhang von Arbeit und sozialer Sicherheit gewahrt wird (vgl. Bischoff/Detje 2007, S. 15) und der Anreiz besteht, nicht nur mehr Gleichheit im Sozialstaatsbereich, sondern auch höhere Gleichverteilung in der ökonomischen Primärverteilung zu erzielen. Ein weiterer Vorteil des Äquivalenzprinzips besteht darin, dass eine Verallgemeinerung des Elends durch Gleichheit auf niedrigem Niveau vermieden und Akzeptanz durch soziale Sicherheit auch bei Versicherten der mittleren Einkommensgruppen geschaffen wird. Allerdings wohnt dem Äquivalenzprinzip auch ein konservatives Element inne: Unterschiede in der Primärsphäre werden zementiert, und Personen, die vor Eintritt des Risikofalls nicht oder kaum erwerbstätig waren, werden nur sehr unzureichend abgesichert. Daher ist das Äquivalenz- zwingend um das Solidarprinzip zu ergänzen.

Ein Vorteil des Solidarprinzips ist, dass es umverteilt, Grundgarantien gewährt und unbegründete ökonomische Unterschiede nivelliert. Sein Nachteil ist: Per se wird nur in der Sekundärsphäre nivelliert, ohne die Primärsphäre zu tangieren, woraus die Gefahr einer Nivellierung auf niedrigem Niveau mit Akzeptanzverlust resultieren kann – wobei nicht zu bestreiten ist, dass beim Solidarprinzip auch höhere Niveaus etabliert werden können.

Die Linke tut also gut daran, nicht gegeneinander zu diskutieren, was gar nicht prinzipiell einander entgegensteht. Solidar- und Äquivalenzprinzip ergänzen sich sinnvoll, und Ähnliches gilt für die Finanzierung der Sozialsysteme. Der aktuelle Bedeutungszuwachs der Gewinn-, Zins- und Vermögenseinkommen erfordert es, neben einem durchaus aufrechtzuerhaltenden Sockel lohnbasierter Beitragsfinanzierung eine komplementäre Verbeitragung und Besteuerung von Gewinneinkommen zur Finanzierung der Sozialsysteme anzuvisieren (vgl. Bischoff/Detje 2007, S. 46).

Dabei wird die Linke auch verdeutlichen müssen, dass soziale Sicherung in öffentlicher Hand den Präferenzen der Individuen wirksam genügt und anders als bei privater Bepreisung durch private Versicherungen keine Menschen undemokratisch ausschließt.

Literatur

Alber, Jens: „Das europäische Sozialmodell“ und die USA, in: Leviathan, 34. Jahrgang, Heft 2/2006, S. 208-214.

Bischoff, Joachim / Detje, Richard: Das Europäische Sozialmodell und die Gewerkschaften. Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 34. Jahrgang, Heft 1/2007, Hamburg 2007.

Bischoff, Joachim: Zukunft des Finanzmarktkapitalismus. Strukturen, Widersprüche, Alternativen, Hamburg 2006.

Esping-Andersen, Gøsta: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

Esping-Andersen, Gøsta: Social Foundations of Postindustrial Economies, Oxford 1999.

Ganßmann, Heiner: Rheinische vs. atlantische Wohlfahrtsstaaten: stabile Gegensätze oder verschwindende Unterschiede?, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 34. Jahrgang, Heft 3/2004, S. 375-400.

Hirsch, Joachim: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg 2005.

Krätke, Michael: Europäischer Wohlfahrtsstaat und transnationale Sozialpolitik. Freiheit, Gleichheit und soziale Sicherheit, in: Widerspruch, 22. Jahrgang, Nr. 42, Heft 1/2002, S. 83-94.

Schmid, Josef: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, 2. Auflage, Stuttgart 2002.

Zinn, Karl Georg: Sozialstaat in der Krise. Zur Rettung eines Jahrhundertprojekts, Berlin 1999.

Zinn, Karl Georg: Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel, Köln 2006.

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