Reichen Tablets zur Digitalisierung der Bildung?

Wir sehen hier ein zu kritisierendes Plakat zur Landtagswahl.

Ich richte meine Kritik nicht gegen die SPD, der ich zur Landtagswahl mit Thomas Kutschaty alles Gute wünsche und deren hier kritisierte Kurzposition zur Digitalisierung von Bildung vermutlich von allen Parteien geteilt wird. Auch richte ich meine Kritik nicht gegen die Plattheit von Wahlkampfparolen, die allen Parteien zu eigen ist, auch meiner eigenen, der LINKEN, der ich den Einzug in den Landtag wünsche.

Meine Kritik lautet, dass es nicht reicht, Schüler nur mit Tablets auszustatten. Was es bräuchte, wäre eine ganz andere Vorgehensweise und eine ganz andere Dimensionierung.

Sieben Hinweise

Erstens bräuchten wir in allen Kommunen eine Schulgebäudewirtschaft in öffentlichem Eigentum mit eigenständiger Rechtsfähigkeit, womöglich als gGmbH. Ihr Ziel: eine aktive und schnelle Planung und Umsetzung bei Neubau, Instandhaltung und Instandsetzung mit megaschnellen Leitungen und WLAN-Netzen in den Schulgebäuden.

Zweitens bräuchten wir eine landeseigene IT-Unternehmung namens IT NRW. Ihr Auftrag: immer wieder neu revolvierende Erwerbung und Bewirtschaftung von Leihgeräten, die den Schulen unbürokratisch ausgehändigt, bei Bedarf schnell repariert und nach Ablauf der Nutzungsdauer durch neue Geräte ausgetauscht werden.

Drittens bedürfte es bei Leitungsinfrastruktur und Geräteausstattung einer ganz anderen finanziellen Dimension als bisher, die mit jeglichem Austeritätsdogma klar bricht. Digitalisierung bei der Bildung ist teuer.

Viertens bräuchte jede Schule mindestens einen, bei hoher Schüleranzahl auch zwei kommunal beschäftigte IT-Beauftragte, die vor Ort dauerhaft aktiv sind und die digitalen Abläufe permanent und dauerhaft sichern. Diese IT-Beauftragten an den Schulen müssten mit den Verantwortlichen von IT NRW schnell und unbürokratisch kooperieren und rasch agieren.

Fünftens wären Tablets alleine keine Lösung, da sie bei Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Officeanwendung, Datenbank und Programmierung Schwächen aufweisen. Nötig wären für Lehrer und Schüler sowohl Tablets mit Stiften als auch PCs/Laptops, womöglich in einem Gerät integriert. Hinzu kommen müssten erstklassige Beamer, Whiteboards, Drucker usw.

Sechstens müssten Software und Hardware super sein. Sind Produkte kapitalistischer Unternehmen wie Microsoft, Apple, Adobe in der gesellschaftlichen Betriebsweise Standard, sollten sie es auch an Schulen sein. Dabei gilt: Digitalisierung muss den Datenschutz beachten; entscheidend ist aber auch Funktionalität.

Siebtens bräuchte die öffentliche Bildungslandschaft im Dialog zwischen Lehrern vor Ort und ministeriell Verantwortlichen eine genauere Idee davon, welche didaktischen Anforderungen bei der Digitalisierung auf welche Weise zu erfüllen sind. In den Dialog wären interdisziplinäre wissenschaftliche Experten sowie Repräsentanten von Gewerkschaften und Unternehmen einzubeziehen. Unter diesem Link und auch nachfolgend findet man unvollständige Anmerkungen zum Thema von mir, der ich beruflich Mitglied einer erweiterten Schulleitung an einem sehr großen kaufmännischen Berufskolleg in Köln bin.


Anmerkungen zur Digitalisierung

Von Alexander Recht, Köln, 14.12.2020

1 „Digitalisierung in der Didaktik“ als Buzzword

„Digitalisierung in der Didaktik“ ist aktuell ein Buzzword. Jeder hält diesen Ansatz für wichtig –  durchaus zurecht. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Offenbar gibt es unterschiedliche Anknüpfungspunkte.

2 Zeitliche Einordnung der Digitalisierung

Digitale didaktische Ansätze sind in Zeiten der Pandemie von hoher Bedeutung. Logisch: Ohne Digitalisierung ist Distanzunterricht kaum möglich. Doch irgendwann liegt die Pandemie hinter uns. Was dann?

Einerseits ist es wohl kaum richtig, nach Ende der Pandemie zum vorcoronalen Status quo ante zurückzukehren. Andererseits ist der Ad-hoc-Ansatz des aktuellen digitalen Einsatzes in der Didaktik, der dem wellenförmigen Verlauf der Pandemie geschuldet ist, nicht 1:1 auf den künftigen Regelbetrieb übertragbar.

Kurzum: Welche Bedeutung kommt Digitalisierung in nachcoronalen Zeiten zu, welche in coronalen Zeiten, und worauf sollte der Fokus gelegt werden?

3 Digitalisierung in der außerschulischen Wirklichkeit

Digitalisierung findet in der außerschulischen Wirklichkeit statt. Menschen kommunizieren beruflich und außerberuflich digital, Produktions- und Dienstleistungsprozesse finden digital statt, Nachrichten, Berichterstattung und künstlerische Werke sind digital geformt.

Digitalisierung in der außerschulischen Wirklichkeit muss im Unterricht thematisiert, bearbeitet und aufbereitet werden. Unterrichtliche Thematisierung, Bearbeitung und Aufbereitung können ihrerseits digital erfolgen – müssen es aber nicht und sollten es womöglich auch nicht immer. Denn Digitalisierung in der außerschulischen Wirklichkeit stellt hier „nur“ den Inhalt des Unterrichts dar.

Kurzum: Welche Bedeutung kommt Digitalisierung als unterrichtlichem Inhalt im Regelbetrieb künftig zu?

4 Digitalisierung als Schreibform und Speicherstruktur

OneNote ist eine geeignete digitale Möglichkeit für LuL und SuS, mit Tablet und digitalem Stift anstelle von Tafel/OHP und Normalstift Tafelbilder zu erstellen und Arbeitsblätter zu bearbeiten. Auch ist es hiermit möglich, Dateien und Artefakte hochzuladen. Durch den digitalen Anschluss sind die Inhalte auf OneNote wie in einem Speicher jederzeit und von jedem Ort aus abrufbar und einsehbar.

Teams ist eine geeignete digitale Möglichkeit für LuL und SuS, per Tastatur Textbeiträge zu erstellen und sonstige Dateien und Artefakte hochzuladen. Hinzu kommt die Möglichkeit, Aufgaben zu erstellen und zu kontrollieren. Durch den digitalen Anschluss sind auch die Inhalte auf Teams jederzeit und von jedem Ort aus abrufbar und einsehbar.

Clouds, die mit Clients und Synchronisation arbeiten, ermöglichen es, Dateien so zu bearbeiten, dass sie von jedem Ort und von jedem Endgerät aus stets gleich aussehen. Das anstrengende Hin- und Herschieben von Gerät 1 zu Gerät 2 gehört damit der Vergangenheit an, und mit einem geeigneten Client erübrigt sich sogar der mühsame Dreischritt von Herunterladen, Bearbeitung und Hochladen.

Kurzum: Welche Bedeutung kommt digitalen Formen der Bearbeitung und Speicherung im schulischen Regelbetrieb künftig zu?

5 Digitalisierung als unterrichtliche Sozialform

Teams eröffnet die Möglichkeit, aus der Ferne unterrichtliche Videokonferenzen virtuell durchzuführen und aufzunehmen, ohne dass SuS bzw. L und SuS realiter beieinander sind. Dabei lassen sich auch Breakout-Rooms einrichten, in denen sich mehrere SuS aus der Ferne in Teilgruppen digital zusammenfinden, um zu konferieren. Digitalisierung könnte also Präsenztreffen ersetzen. Aber ist das sinnvoll?

Kurzum: Welche Bedeutung kommt digitalen unterrichtlichen Sozialformen im schulischen Regelbetrieb künftig zu?

6 Digitalisierung als Kommunikationsform

Teams eröffnet die Möglichkeit, dass SuS untereinander, aber auch L und SuS aus der Ferne virtuell miteinander kommunizieren, ohne dass sie realiter beieinander sind.

Kurzum: Welche Bedeutung kommt digitalen Kommunikationsformen im schulischen Regelbetrieb künftig zu?

7 Digitalisierung als mediale Form

Bücher, Bild- und Tonträger sind heute mehr und mehr digital. Welche Zukunft stoffliche Träger wie papiernes Schulbuch und Arbeitsblatt haben werden, ist völlig unklar. Bei bildlichen Darstellungen gibt es schon heute nahezu ausschließlich digitale Formate. Platten sind nur noch für digitalen Höchstgenuss von Bedeutung, ansonsten dominiert auch hier die digitale Form (mpeg- und Streamingdateien).

Kurzum: Welche Bedeutung kommt digitalen Inhaltsträgern/Medien (Schulbücher, Arbeitsblätter, sonstige Medien) im schulischen Regelbetrieb künftig zu?

8 Digitalisierung als Tool

Programme wie Word, Excel und PowerPoint verdeutlichen seit jeher die instrumentelle Dimension der Digitalisierung. Mit ihnen lassen sich Texte, Tabellen und Vorträge ansehen, erstellen und bearbeiten. Hinzu kommen Programme der statischen und beweglichen Bild- und Tonerzeugung und -bearbeitung, die ebenfalls Konsumtion, Erzeugung und Bearbeitung erlauben.

Kurzum: Welche Bedeutung kommt digitalen Instrumenten, Programmen und Tools im schulischen Regelbetrieb künftig zu?

9 Digitalisierung als umfassender Ansatz

Die Wirklichkeit ist digital geprägt. Ihre gesellschaftlichen Darstellungen in Büchern, Bild- und Tonträgern nehmen digitale Form an. Die unterrichtliche Anschauung, Bearbeitung und Neuerstellung erfolgt auf Basis digitaler Programme. Unterricht kann in digitaler Sozialform stattfinden. Vor- und Nachbesprechungen sowie Diskurse selber treten in digitaler kommunikativer Form auf. Unterrichtlich eingesetzte Medien sowie unterrichtlich und nachunterrichtlich bearbeitete und erstellte Zwischen- und Endprodukte werden digital erzeugt und gespeichert.

Kurzum: Auf welchen Aspekt der Digitalisierung sollte der Schwerpunkt in dieser digitalen Gemengelage im schulischen Regelbetrieb gelegt werden?

10 Digitalisierung unter dem Banner der Knappheit

Der Tag wird auch in Zukunft 24 Stunden umfassen, der Schultag maximal 8 Stunden, die Woche 5 Tage, das Schuljahr 40 Wochen. Daraus folgt: Wenn Digitalisierung auf verschiedenen Ebenen an Bedeutung zulegen wird, welche Inhalte, Speicher, Sozial- und Kommunikationsformen, Medien und Instrumente werden und sollen dann kompensatorisch unter dem Banner der Knappheit an Bedeutung abnehmen?

Kurzum: Wie lassen sich Digitalisierung und andere, nicht-digitale Wirklichkeiten im schulischen Regelbetrieb zeitlich ausbalancieren?

11 Digitalisierung als kulturelle Integrationsaufgabe

Digitalisierung wälzt unser Leben, unsere Praxen, unsere Umwelt, unsere Schulen um. So schön, richtig und unumgänglich dies auch ist – es ist nicht nur schön, und es ist auch nicht nur gut. Es wird KuK sowie SuS geben, die aus gutem Grund bremsend wirken. Und es wird solche geben, die bremsen, auch wenn Gas zu geben angebracht wäre.

Dies verdeutlicht: Digitalisierung derart im Kollegium und in der Schülerschaft zu verankern, dass sie ihrer problematischen Seiten entledigt und mit ihren guten Seiten von allen KuK und SuS als völlig selbstverständlich und richtig anerkannt ist, ist keine Aufgabe von ein, zwei Jahren, sondern eine kulturelle Integrationsaufgabe ersten Ranges.

Kurzum: Wie und mit welchem zeitlichen Horizont lässt sich die kulturelle Integrationsaufgabe der Digitalisierung angemessen bewältigen?

12 Digitalisierung und die Gefahren kultureller Verarmung und neuer sozialer Spaltungen

Ein Buch zu spüren, zu wälzen und zu riechen ist ein Genuss sui generis. Ein Blatt handschriftlich zu beschreiben ist etwas anderes als die Beschriftung per digitalem Stift oder per Tastatur. Ein materielles Bild oder eine körperliche Skulptur zu kontemplieren ist etwas anderes als die Auseinandersetzung mit digitalen Medien. Dirigierte Aufführungen sowie redaktionell ausgewählte und lektorierte Exponate sind etwas anderes als die teils fragwürdige Vielheit digital verfügbarer Angebote, zu der jeder beitragen kann, und zwar auch dann, wenn er es besser sein ließe. Miteinander aus der Nähe mit Worten, Gestik und Mimik zu kommunizieren ist etwas anderes als die Kommunikation über Videokonferenzen. Sich nur auf Digitalisierung zu kaprizieren könnte also kulturelle Verarmung befördern.

Der eine hat aufgrund von Erziehung, Sozialisation und materiellen Voraussetzungen bessere Bildungschancen als ein anderer: Bildung ist eine Klassen- und Schichtenfrage. Schule und Unterricht können diese sozialen Spaltungen nicht gänzlich aufheben, aber sie hier und da reduzieren. Nun kommt es zur Digitalisierung. Dort gilt: Der eine kann durch Erziehung, Sozialisation und materielle Voraussetzungen besser mit digitalen Medien, Speichern, Programmen, Geräten, Sozial- und Kommunikationsformen umgehen als ein anderer. Was aber, wenn die, die ohnehin bei der Bildung benachteiligt sind, dieselben sind, die bei der Digitalisierung ins Hintertreffen geraten? Dann würde Digitalisierung soziale Spaltungen nicht einebnen, sondern vertiefen – Stichwort: „digitale Kluft“.

Kurzum: Wie lassen sich die Gefahren kultureller Verarmung und neuer sozialer Spaltungen im Zuge der Digitalisierung minimieren?

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