A)
1977: Es erscheint der Film “Saturday Night Fever”. Auf der einen Seite geht’s im Film um Disco, Musik, Tanz. Und das bedeutet: Genuss, Party, Spaß. Dies wird verkörpert durch den Tanzkönig Tony Manero, der umwerfend von John Travolta gespielt wird.
Auf der anderen Seite geht’s im Film um soziale Spannungen und Spaltungen. Klassenschranken verhindern egalitäre Lebensbedingungen; Religion blockiert Individualität; Geschlechterverhältnisse verletzen; ethnische Ressentiments diskriminieren; Ehrgeiz, Rivalität und Konkurrenzdenken stehen Genuss entgegen; Liebeshoffnungen zerplatzen.
Disco, Musik, Tanz sind mit den problematischen Verhältnissen verwoben. Sie bieten aber auch die Gelegenheit, ihnen eskapistisch zu entfliehen. Schließlich scheint in Disco, Musik und Tanz die Möglichkeit auf, dass das ganze Leben besser sein und werden kann. Bei aller Kritik an seiner klischeehaften Darstellung ist daher zu würdigen, dass der Film diese Ambivalenz anerkennt.
B)
Freilich gab es 1977 weitere Probleme. Versuche einer umfassenden Demokratisierung und Vergesellschaftung der Produktions- und Verkehrsverhältnisse waren in den westlichen Länder nicht von Erfolg gekrönt. 1973 hatte es eine erste Ölpreiskrise gegeben, die zweite von 1979 deutete sich an. Die Länder des Trikonts gerieten zunehmend in einen Strudel aus Abhängigkeit und Schuldenkrise. Das Bretton-Woods-System war 1973 zerbrochen und erforderte internationale Anpassungen. Die Möglichkeit von Krisen bestand im Kapitalismus nach wie vor, sei es Überakkumulation oder Unterkonsumtion, seien es Disproportionen zwischen Abteilungen oder Überhänge der Ansprüche fiktiven Kapitals über reale Möglichkeiten, seien es Krisen auf nationalem oder internationalem Terrain.
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die Lohnquote in D seit 1970 kontinuierlich um 5 Prozentpunkte gestiegen war, dass es reale Lohnerhöhungen gab, dass das Betriebsverfassungsgesetz 1972 reformiert und das Mitbestimmungsgesetz 1976 beschlossen wurde, dass die Gewerkschaften frei agieren durften und ihre Möglichkeiten auch nutzten.
Auch hier ist also eine Ambivalenz gesellschaftlicher Entwicklungen festzustellen.
C)
1977 kommt es zum Deutschen Herbst. Ein sich radikalisierender Teil der Linken hatte die Ambivalenz gesellschaftlicher Entwicklungen kaum im Blick. Ansätze und Instrumente seiner Analyse waren nicht überzeugend. Er übte personalisierend eher Kritik an Eliten statt an Strukturen; von ihm kamen moralische Anklagen (“Schweinesystem”) statt fundierter theoretischer und empirischer Kritik der politischen Ökonomie; er wähnte sich in einer Form von Hybris als Richter über Gut und Böse; er wählte den fatalen und schlimmen Weg blutiger Gewalt.
Ich bin weit davon entfernt, die Fehler und Vergehen staatlichen Handelns in den 70ern oder die kapitalistischen Krisen in den 70ern zu beschweigen. Und dennoch bin ich auch Jahrzehnte später irritiert, auf welch’ falsche Spur der sich radikalisierende Teil der Linken geraten war, der ohne Blick für Ambivalenzen und in krasser Verkennung der Singularität des NS davon ausging, dass der deutsche Kapitalismus 1977 auf dem Weg zu einem neuen Faschismus sei. Hier ein RAF-Zitat als Beispiel für die analytischen Fehlleistungen:
der moralische appell eines hungerstreiks ist hilflos, weil die politische gewalt in diesem staat nicht “faschistoid” oder von “faschistischen tendenzen” bedroht sondern mitten in der transformation zu einem neuen faschismus ist, der sich vom nationalsozialismus nur dadurch unterscheidet, dass er amerikanische und deutsche monopole repräsentiert und damit aggressiver, mächtiger und subtiler auftreten kann als der kapitalismus in deutschland während seiner barbarischen nationalen geschichte. seine verfetteten eliten, egal ob sie in der justiz, der exekutive, den parteien, konzernen oder medien sitzen, verstehen nur eine sprache – die gewalt.