Tanzt schön in den Mai!

Da morgen der erste Mai ist, ist es womöglich passend, ein Video mit postmodernen Zügen zu posten, nämlich jenes zum Lied „Since I Left You“ der australischen Band The Avalanches aus dem Jahr 2000. Postmodern ist das Video in zweierlei Hinsicht. Zum einen markiert es einen Ausweg aus gesellschaftlichen Problemen, der mit Vorstellungen der Arbeiterbewegung der Moderne bricht; zum anderen entzieht es sich einer klaren Interpretation. Inwiefern?

Wir sehen im Video zwei Kohlekumpel, die vermutlich Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr hart arbeiten. Plötzlich hören sie unter Tage während einer Pause Musik in einem Hohlraum über sich. Sie graben einen Durchbruch zu diesem Raum, und was folgt? Sie finden sich in einer traumhaften Szenerie wieder, in der zwei wunderschöne funky Chicks – man verzeihe mir diesen Ausdruck – vor einer Jury tanzen. Der erste der beiden Kumpels namens Arthur entschließt sich, mit diesen beiden Mädels wie in einem Akt der Befreiung enthusiastisch zu tanzen. Der zweite Kumpel ist ebenfalls hocherfreut, wagt es aber aufgrund von Reserviertheit, Scheu und Angst nicht, über leichtes Schwofen hinaus veritabel mitzutanzen.

Schließlich merkt der zweite Kumpel, dass sein Körper ergraut und ein Sog ihn in seine bisherige Welt zurückzuziehen versucht – ein Fanal, dass er sich entscheiden muss. Soll er in der tänzerischen Welt des Enthusiasmus verweilen oder aber in seine zwar mit Mühsal verbundene, aber eben auch vertraute alte Welt zurückkehren? Der zweite Kumpel traut sich am Ende nicht, seine Angst zu überwinden, und kehrt ins bekannte Terrain zurück. Anders verhält es sich mit dem enthusiastisch tanzenden ersten Kumpel. Dieser entschließt sich, in der traumhaften Szenerie zu bleiben – eine der beiden schönen Frauen in seinem Arm haltend. Damit ist der Ausweg für diesen ersten Kumpel ein anderer als jener, den die Arbeiterbewegung als sich progressiv verstehender Teil der modernen Welt den Proletariern gewiesen hat.

Der Ausweg der durch Marx geprägten Arbeiterbewegung bestand nämlich in einer anderen Form gesellschaftlicher Arbeit, verrichtet von einem „Verein freier Menschen (.), die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben.“ Dann, so die Marxsche Vorstellung, „beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“, so dass „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ ist. Und „nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“, kann „die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“

Der postmoderne Ausweg im Video hingegen hat mit Arbeit prima facie nichts zu tun. Es ist vielmehr eine Flucht aus dem drögen Alltag der Arbeit, es ist Tanz (in den Mai), Enthusiasmus und Spaß. Wie die materiellen Grundlagen fürs Leben geschaffen werden und was vor und nach dem Tanzen kommt, wird im Video nicht einmal als Frage aufgeworfen – ein klares Defizit, könnte man meinen. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass Tanz, Enthusiasmus und Spaß im Video eine mitreißende Faszination ausüben. Jedenfalls ist das postmoderne Ausstiegsszenario im Video ein anderes als das der Arbeiterbewegung im Zeitalter der Moderne: Spaß statt Emanzipation, Konsumtion statt Produktion.

Nun zur Frage der Interpretation: Was ist es, was im Video passiert, und für wen steht der erste Kumpel namens Arthur, der enthusiastisch tanzt? Für einen Proletarier, der unterm Kapitalismus leidet? Für einen Solidarnosc-Gewerkschafter wie Lech Wałęsa, der unterm Staatssozialismus leidet? Für einen Arbeiter, der einfach an der Ödnis des Alltags leidet? Oder für einen verklemmten Menschen, der einmal im Leben ein Momentum braucht, um seine libidinösen Schranken zu überwinden?

Und was soll zum Ausdruck gebracht werden? Geht es wirklich nur um Leid sowie Spaß und Tanz als Ausweg aus diesem Leid? Oder sind Spaß und Tanz im Video nur eine Chiffre für das Begehren gegen die Widrigkeiten des Lebens und für den Wunsch nach einem anderen und besseren Leben, das aus weit mehr als nur Spaß und Tanz besteht? Das wäre im Sinne Rio Reisers, der einst sang: „Der Traum ist ein Traum zu dieser Zeit, doch nicht mehr lange, mach dich bereit: für den Kampf ums Paradies. Wir hab’n nichts zu verlier’n außer unser Angst. Es ist uns’re Zukunft, unser Land. Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand.“

Oder handelt es sich vielleicht letzten Endes doch nur um die Geschichte zweier Bergkumpel, die im Zuge eines Grubenunglücks kurzzeitig ihr Bewusstsein verlieren, wobei der erste, der als Tänzer namens Arthur figuriert, in Wirklichkeit stirbt, wohingegen der zweite Kumpel überlebt, so dass das, was wir im Video sehen, die Traumsequenz des zweiten Kumpels während seiner Agonie darstellt?

Wir wissen es nicht und haben die Freiheit, es uns selber auszudenken. Und so lautet ein Leitspruch der Postmoderne nicht von ungefähr: „Anything goes!“ (Paul Feyerabend) Der zweite Kumpel jedenfalls hat sich seine Meinung gebildet und schließt wie folgt: „Drei Tage später gruben sie mich aus; nie wieder habe ich Arthur gesehen. Aber ich wette: Wo auch immer er hingegangen ist – er hat eine verdammt gute Zeit.“

In diesem Sinne: Tanzt schön in den ersten Mai!


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