Der tägliche Kampf um einen Platz im Leben, um Anerkennung, um Wertschätzung findet seit der Wahl Donald Trumps wieder mehr Beachtung. Erstaunt stellt man fest: der Diskurs hat sich derart weit vom Leben des „einfachen Menschen“ entfernt, dass es kaum ein Verständnis für die unterschiedlichen Lebensentwürfe und den Kampf um das tägliche Leben gibt. Mit „Brot statt Böller“ signalisieren wir jedes Sylvester unsere moralische Überlegenheit (und fliegen gleichwohl für ein Wochenende nach Rom, aber das ist ja Bildung und Kultur und nicht Kerosinverbrauch), ebenso in der Verachtung der Musik („Mainstream“) und des (ungesunden) Essens. Das kleine Glück des Lebens zählt in Zeiten der permanenten Selbstvermarktung nichts mehr.
Dass Arbeit mehr ist als Einkommenserzielung war einmal gut bekannt und erforscht, die „Arbeitslosen von Marienthal“ lassen grüßen. Der Wert der Arbeit bemisst sich eben auch, aber nicht nur in einem anständigen Einkommen. Arbeit ist Wertschätzung und Anerkennung, und Arbeit ist sinnstiftend. Ich habe es an andere Stelle schon einmal geschrieben: Der Postbote war vielleicht nicht der spannendste Job der Welt, aber er war geachtet, sicher und anerkannt. Und heute? In Zeiten des Onlinehandels ist die Frage der Wertschätzung und der Anerkennung für die Paketzusteller anders gestellt – von der Bezahlung ganz zu schweigen.
Das musikalische Sprachrohr dieses Diskurses ist Bruce Springsteen. In Österreich ist dies spätestens seit der „Übersetzung“ des Liedes „Factory“ („Factory takes his hearing, factory gives him life“ – leider kommt das Lied in der Autobiografie nicht vor) durch Ostbahn-Kurti unter dem Titel „Arbeit“ bekannt. In seiner Autobiografie stellt Springsteen die Bezüge zu seiner eigenen, einfachen Herkunft immer wieder her. Vielleicht am Eindrucksvollsten ist es, sich den Liedtext von „The River“ noch einmal anzuhören, der Ausgangspunkt dieses Songs „war der Zusammenbruch der Bauindustrie von New Jersey in den späten Siebzigern, die Rezession und die harten Zeiten, die in der Folge über meine Schwester Virginia und ihre Familie hereingebrochen waren“ (S. 375).
„The River“ beschreibt das Leben eines jungen Mannes, der fast zwangsläufig seinem Vater folgt („I come from down in the valley — Where mister when you’re young — They bring you up to do like your daddy done“). Er lernt seine spätere Frau kennen, die wird schwanger, man heiratet ganz unsentimental und wird Mitglied der Gewerkschaft („Then I got Mary pregnant — And man that was all she wrote — And for my nineteenth birthday I got a union card and a wedding coat“). Einen Job bekam er auch – „But lately there ain’t been much work on account of the economy“. Springsteen weist – auch in seiner Autobiografie – deutlich auf die makroökonomischen Fragen hin. Es ist eben nicht das Versagen des Einzelnen, dass er arbeitslos ist, sondern es sind Fragen, die ökonomisch zu lösen sind. Natürlich: Es geht auch darum, Menschen die bestmöglichen Chancen und Startmöglichkeiten zu geben. Man sollte aber nicht vergessen, dass die Frage der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung keine ist, die der Arbeitslose beeinflusst oder verantwortet. In aller Brutalität heißt es in „The River“: „Is a dream a lie if it don’t come true — Or is it something worse — That sends me down to the river — Though I know the river is dry — That sends me down to the river tonight.“
Und das bringt einem dann zu Oliver Nachtway. Der Fluß ist bei ihm ein Schiff: „Wie ein verlassenes Schiff auf hohe See schlingern viele Arbeitnehmer durch das Erwerbsleben, sie sind äußeren Gewalten ausgeliefert und können selbst nicht mehr steuern“ (S. 140). Nachtway beschriebt kenntnisreich den Wandel der Arbeitswelt und stellt ebenfalls den Wert der Arbeit, den Kampf um den eigenen Status, die Zerrissenheit der Betroffenen in den Mittelpunkt. Er beschreibt, dass viele Angehörige der Mittelklasse mit ausreichend Ressourcen ausgestattet sind, Liberalisierungen zu nutzen, „weil für sie die Befreiung aus den kollektiven Arrangements tatsächlich mehr Autonomie und Eigenverantwortung im positiven Sinne bedeutet“ (S. 108). Alle anderen aber, die im „Mahlstrom der Liberalisierung“ (ebd.) nicht mitkommen bleibt mehr Unsicherheit. Das perfide: Oft wird denjenigen, die auf dem Arbeitsmarkt eben nicht ausreichend bestehend vorgeworfen, schlicht selbst an der Misere Schuld zu sein. Individuelles Versagen (fehlende Bildung, fehlender Anpassungswille…) ist eine beliebte Erklärung für Arbeitslosigkeit. Richtig ist, dass Bildung zu fördern helfen kann, Mismatch-Probleme am Arbeitsmarkt zu beheben. Bildung hat zudem immer auch einen emanzipatorischen Charakter und es kann Neues entstehen. Allerdings löst Bildung nicht eine makroökonomische Krise („Wenn sich alle auf die Zehenspitzen stellen, sieht niemand besser“, S. 154). Darauf weisen – wenn man will – Nachtway und Springsteen hin, denn der oder die einzelne hat oft nichts falsch gemacht.
„Früher“, schreibt Nachtway (S. 169) „hatten Lohnarbeiter durchaus noch ein positives Bild von der eigenen Zukunft (…). Heute fühlen sie sich ausgegrenzt, deklassiert, diskriminiert – und hoffnungslos.“ Das aber ist fatal für eine demokratische Gesellschaft. Wenn der Eindruck entsteht, dass es eh egal ist, was man tut, dann kann dies enorme gesellschaftliche Konsequenzen haben. Es wird höchste Zeit, das Projekt Europa vom Kopf auf die Beine zu stellen und Möglichkeiten zu organisieren für die künftigen Generationen – und nicht über Sparpolitiken und Wettbewerbsdogmen ganzen Generationen zu verlieren.
Vielleicht war es der reine Zufall, dass sich beide Bücher im kurzen Abstand gelesen habe. Für mich behandeln sie aber beide auch ein wichtiges Thema: Des Selbstwert, den Arbeit erzeugt – und die Frage, wem man die Verantwortung für krisenhafte ökonomische Systeme aufbürdet. Um Enttäuschungen vorzubeugen: Die Autobiografie von Springsteen handelt vor allem von Musik, wie er zu den Liedern kam. Deutlich werden dabei aber die Wurzeln von Springsteen – und es drängt sich die Frage auf, wo ein vergleichbares Sprachrohr der „Arbeiter“ heute bleibt.
Bruce Springsteen: Burn to run. Die Autobiografie, München 2016 (Wilhelm Heyne Verlag)
Oliver Nachtway. Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016 (Suhrkamp Verlag).