Essenz, Existenz und die Reihenfolge

Wenn der Mensch produziert, gehen Bestimmung und Entwurf des zu produzierenden Gegenstandes der Produktion voraus. Karl Marx drückt es so aus:

„Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“ (Marx, Karl: Das Kapital, Band I, in: MEW 23, S. 192)

Bezeichnet man also Bestimmung und Entwurf als Essenz und das fertige Produkt als Existenz, lässt sich behaupten, dass im Hinblick auf die Produktion die Essenz der Existenz vorausgeht. Sartre greift diesen Gedanken auf und formuliert es wie folgt:

„Wenn man einen produzierten Gegenstand betrachtet, zum Beispiel ein Buch oder einen Brieföffner, so wurde dieser Gegenstand von einem Handwerker hergestellt, der sich von einem Begriff hat anregen lassen; er hat sich auf den Begriff Brieföffner bezogen und auch auf ein bereits bestehendes Herstellungsverfahren, das Teil des Begriffs ist – im Grunde ein Rezept. So ist der Brieföffner zugleich ein Gegenstand, der auf eine bestimmte Weise hergestellt wird und der andererseits einen bestimmten Nutzen hat; man kann sich keinen Menschen vorstellen, der einen Brieföffner herstellte, ohne zu wissen, wozu der Gegenstand dienen wird. Wir sagen also, daß beim Brieföffner die Essenz, das Wesen – das heißt die Gesamtheit der Rezepte und der Eigenschaften, die es gestatten, ihn zu produzieren und zu definieren – der Existenz vorausgeht; in dieser Weise ist die Gegenwart dieses Brieföffners oder jenes Buches hier vor mir determiniert. Wir haben es hier mit einer technischen Betrachtung der Welt zu tun, bei der die Produktion der Existenz vorausgeht.“ (Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, pdf-Dokument, S. 3)

Wie ist es aber mit dem Menschen? Offenbar hatte der Mensch seine eigene Bestimmung nicht im Sinn, bevor seine Existenz produziert wurde. Als Ungeborenem konnte ihm die Frage nach Bestimmung und Entwurf nicht gestellt werden. Und daher kann der Mensch keine Bestimmung des Seins vor der Geburt als Beginn seiner Existenz vornehmen. Im Gegenteil: Er muss erst existieren, bevor er sich überhaupt der Aufgabe stellen kann, seiner Existenz Bestimmung und Sinn hinzuzufügen. Bezeichnet man also Bestimmung und Sinn als Essenz und die Geburt als Beginn der Existenz, lässt sich sagen, dass beim Menschen die Existenz der Essenz vorausgeht. Bei Sartre heißt das wie folgt:

„Der atheistische Existentialismus, den ich vertrete, ist kohärenter. Er erklärt: wenn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dieses Wesen ist der Mensch oder, wie Heidegger sagt, das Dasein. Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert. Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Folglich gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, sie zu ersinnen. Der Mensch, er ist lediglich, allerdings nicht lediglich, wie er sich auffaßt, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz auffaßt, nach diesem Elan zur Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht. Das ist das erste Prinzip des Existentialismus.“ (Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, pdf-Dokument, S. 4)

Was bedeutet das für die Zukunftsaussichten des Menschen? Entgegen dem Vorurteil verstehen sich Existentialisten eher optimistisch. Man denke etwa an Camus, der schrieb:

„Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek 2017, S. 145)

Auch Sartre sagt, dass der Existentialismus

„nicht als pessimistische Beschreibung des Menschen (betrachtet werden kann): es gibt keine optimistischere Lehre, da das Schicksal des Menschen in ihm selbst liegt“.  (Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, pdf-Dokument, S. 9)

Der Optimismus besteht also bei Sartre darin, ein von vornherein schlechtes Schicksal auszuschließen.“ Daraus folgt für Sartre:

„(…) der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.“ (Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, pdf-Dokument, S. 9)

Dies zeigt schon an, dass der Begriff des Optimismus bei Sartre nicht identisch mit jenem des Glücks gefasst wird. Denn die Herausforderung, die Freiheit sinnvoll und glücksbringend zu füllen, ist nicht gerade klein und muss bewältigt werden ohne Vertrauen auf eine glückliche Fügung durch eine übermenschliche, die Dinge zum Guten wendende Instanz. Also sind die Menschen frei und auch verlassen.

„Die Verlassenheit schließt ein, daß wir selbst unser Sein wählen. Die Verlassenheit geht einher mit der Angst. Und was die Verzweiflung betrifft, dieser Ausdruck hat einen außerordentlich einfachen Sinn. Er will sagen, daß wir uns darauf beschränken werden, mit dem zu rechnen, was von unserem Willen abhängt, oder mit der Gesamtheit der Wahrscheinlichkeiten, die unser Handeln möglich machen. Wenn man etwas will, gibt es immer wahrscheinliche Elemente.“ (Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, pdf-Dokument, S. 12).

Der Mensch ist mithin frei im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten, und diese können dazu führen, dass der Mensch mit dem Ergebnis seiner Handlungen, das auch das Ergebnis der Handlungen der anderen Menschen und der stochastischen Wahrscheinlichkeit ist, mehr oder weniger glücklich ist.

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