Für eine moderne und repressionsfreie bedarfsdeckende Mindestsicherung

Der folgende Text wurde von Matthias W. Birkwald, Daniel Kreutz, Alexander Recht und Carolin Reißlandt (heute: Butterwegge) im Oktober 2008 verfasst. Im Zuge der Debatte innerhalb der damals just neu gegründeten Partei DIE LINKE um eine solidarische Alternative zu Hartz IV plädierte der Text für eine bedarfsdeckende und repressionsfreie Mindestsicherung. Er grenzte sich damit sowohl vom Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens als auch von dem einer sanktionsbewehrten Mindestsicherung ab. Der Text wurde am 18./19.10.2008 auf einem NRW-Landesparteitag in Essen als Antrag eingebracht, fand damals jedoch wegen Widerspruch im Detail keine Mehrheit. Indes ist eine bedarfsorientierte und sanktionsfreie Mindestsicherung Beschlusslage der LINKEN.

Ausgangspunkt

Hartz IV muss weg – ohne wenn und aber. Die Abschaffung der vorrangigen Arbeitslosenhilfe, die „Aussteuerung“ der Erwerbslosen nach 12 Monaten Erwerbslosigkeit in das neue, repressive Fürsorgesystem des SGB II mit unzureichendem Leistungsniveau bedeutet Armut per Gesetz. Drei Vierteln der Erwerbslosen wurde mittlerweile der Schutz der vorrangigen Arbeitslosenversicherung entzogen. Das Hartz-IV-Regime verstößt mit seiner entrechteten 1-€-Zwangsarbeit, den schikanösen Kontrollen von sog. Sozialdetektiven und Zwangsumzügen gegen die Würde des Menschen. Die zu geringen Regelsätze begünstigen Fehl- und Unternährung insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, gefährden die Gesundheit der Betroffenen und benachteiligen sie z.B. bei der Teilhabe an Bildung und dem kulturellen Leben. Die Furcht vor Armut und sozialem Ausschluss reicht tief in die Mitte der Gesellschaft hinein. Nicht zuletzt wirkt sie disziplinierend auf die Beschäftigten, schwächt die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften, begünstigt Untertanenmentalität und unterhöhlt so die Demokratie.

DIE LINKE. hat sich in ihren programmatischen Eckpunkten zu einer bedarfsorientierten Mindestsicherung bekannt. Es heißt dort:

„Zur Verwirklichung dieser Aufgaben treten wir ein: (…) für die Einführung einer bedarfsorientierten, repressionsfreien sozialen Grundsicherung: Wer von Armut bedroht ist, soll Anspruch auf eine individuelle, steuerfinanzierte, bedarfsorientierte soziale Grundsicherung haben. Zumutbare Arbeitsangebote müssen die Qualifikation berücksichtigen und tariflich bezahlt sein. Den Zwang zur Aufnahme jeglicher Jobs lehnen wir ebenso ab wie erzwungene Erwerbslosigkeit.“

Auch die LINKE NRW hat diese Forderung in ihren auf dem Landesparteitag im Oktober 2007 verabschiedeten „Landespolitischen Positionen“ bekräftigt. Das nachfolgende Eckpunktkonzept ist ein Vorschlag zur Konkretisierung dieser Forderung, der Gegenstand eines breiten Beratungsprozesses, innerparteilich und mit den Interessenvertretungen der Betroffenen werden soll.

DIE LINKE NRW fordert den Parteivorstand der LINKEN und DIE LINKE im Bundestag auf, zu prüfen, ob zur besseren begrifflichen Unterscheidung und im Einklang mit unseren Vorschlägen für einen gesetzlichen Mindestlohn und einer „Rente nach Mindesteinkommen“ das linke Grundsicherungskonzept den Namen bedarfsdeckende soziale Mindestsicherung erhalten kann. Da die bestehenden Fürsorgesysteme von SGB II und XII auch als „bedarfsorientierte soziale Grundsicherung“ bezeichnet werden, halten wir diese begriffliche Unterscheidung für sinnvoll und notwendig. Diese Eckpunkte sind dringend geboten als kleinerer Teil dessen, wodurch Hartz IV insgesamt zu ersetzen ist.

Sie sollen als erster Schritt eine Mindestsicherung auf besserem Niveau herstellen. Der zweite Schritt, und noch zu erstellende größere Teil, besteht in der notwendigen Schaffung einer steuerfinanzierten Absicherung bei Langzeiterwerbslosigkeit, in die – im Sinne der „originären Arbeitslosenhilfe“ – auch Erwerbslose ohne vorherige Ansprüche nach dem SGB III einbezogen werden sollen. Eine solche „neue Arbeitslosenhilfe“ ist unerlässlich, um den Absturz nach 12 bzw. 18 Monaten Erwerbslosigkeit an den untersten Rand zu verhindern, der durch diese Eckpunkte zwar gemindert würde, jedoch weiterhin eine maßgebliche Ursache für die Ausbreitung disziplinierender Existenzangst unter den Beschäftigten darstellt.

1) Ziele und Einordnung

Armut und sozialer Ausschluss verletzen die Menschenwürde. Achtung und Schutz der Menschenwürde ist aber Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 1 GG). Mit dem Ziel

„dem Empfänger der Hilfe ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“

wollte das Bundessozialhilfegesetz (1967) diese sozialstaatliche Verpflichtung mit einem Mindestsicherungssystem für all diejenigen einlösen, die nicht über die dazu notwendigen Einkommen oder Vermögen bzw. ausreichende vorrangige Sozialleistungen, insbesondere aus der Sozialversicherung, verfügen. Dieses Versprechen wurde indes schon lange vor Hartz IV gebrochen: Seit den frühen 1980er-Jahren wurde unter dem Druck von Massenerwerbslosigkeit und neuer Massenarmut in Westdeutschland wiederholt mit Leistungsverschlechterungen und dem Ausbau repressiver, „armenpolizeilicher“ Elemente in das Sozialhilfssystem eingegriffen.

Ziel des vorliegenden Konzepts ist es, die sozialstaatliche Verpflichtung zur Schaffung eines wirksamen und verlässlichen Schutzes vor Armut und sozialer Ausgrenzung wieder aufzugreifen und ihr in einer bürgerrechtlich vertretbaren, repressions- und diskriminierungsfreien Form nachzukommen. Die Aufgaben, Armut zu vermeiden und soziale Inklusion zu stiften, können allerdings nicht an ein Mindestsicherungssystem „delegiert“ werden. Überwiegend kommt es auf anständige Löhne, leistungsfähige Sozialversicherungen und angemessene vorrangige Sozialleistungen an.

Eine zentrale Aufgabe hierzu ist die Wiederherstellung einer vorrangigen Absicherung bei Langzeiterwerbslosigkeit. Denkbar wäre in diesem Sinn die Schaffung einer neuen Arbeitslosenhilfe, in die auch alle Erwerbslosen ohne Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung einbezogen werden. Insbesondere einem armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn und der Fortentwicklung der Sozialversicherungen zu Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherungen, in denen das Solidarprinzip gestärkt wird und zu deren Finanzierung hohe und höchste Einkommen angemessen herangezogen werden, kommt in diesem Zusammenhang eine maßgebliche Bedeutung zu. Da aber die Sozialversicherung selbst mit ihren am Äquivalenzprinzip orientierten Lohnersatzleistungen (Abhängigkeit der Leistungshöhe vom Umfang der Beitragszahlung) Armutsvermeidung nur als Ergebnis zeitigen, aber nicht als Ziel verfolgen kann, bleibt ein nachrangiges Mindestsicherungssystem unverzichtbar.

2) Anspruchsberechtigter Personenkreis

Einen Rechtsanspruch auf Mindestsicherung haben alle Menschen, die über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen, um ihren soziokulturellen Mindestbedarf zu decken, und die rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland leben,1 einschließlich der Asylsuchenden und Flüchtlinge.

Die bedarfsdeckende Mindestsicherung ersetzt somit das SGB II, die Hilfe zum Lebensunterhalt (im SGB XII, ausgenommen: Einmalige Bedarfe nach § 31), die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung des SGB XII sowie das Asylbewerberleistungsgesetz.

3) Individualprinzip

Die Mindestsicherung orientiert sich am Individualprinzip, d.h. jeder bedürftige Mensch hat unabhängig von ihrem/seinem Familienstand einen eigenen Anspruch.

Bei zusammen lebenden Erwachsenen wird die „Haushaltsersparnis“ gleichmäßig bei der Bemessung der individuellen Regelsätze berücksichtigt.

4) Leistungen

Die Mindestsicherung umfasst Geldleistungen zur Sicherung des laufenden Lebensunterhaltes, die Übernahme notwendiger Sozialversicherungsbeiträge sowie einen Rechtsanspruch auf eine (kostenträger)unabhängige Sozialberatung.

4.1) Bemessung der Regelleistungen für Erwachsene

Die Geldleistungen setzen sich zusammen aus pauschalierten Regelleistungen, pauschalierten Mehrbedarfszuschlägen für bestimmte Zielgruppen sowie den Wohnkosten. Um Vorschläge zur bedarfsdeckenden Bemessung der Regelleistungen und Mehrbedarfszuschläge zu definieren, wird unverzüglich eine Expertenkommission einberufen, in der auch die Interessen Betroffener angemessen vertreten sind (Bedarfsbemessungskommission). Sie ermittelt den Bedarf anhand der in der Bundesrepublik Deutschland und der EU anerkannten Armutsgrenze von 60% des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens und anhand von Referenzwarenkörben für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche nach Altersgruppen.

Die Referenzwarenkörbe beinhalten tatsächliche Güter und Dienstleistungen, die für einen Mindestmaß an sozialer Teilhabe erforderlich sind. Auf Grundlage der Preisentwicklung der Güter und Dienstleistungen erfolgen die Überprüfung statistisch hergeleiteter Bedarfsbemessungen sowie die Dynamisierung der Leistungen (s.u.). Die durch die Bedarfsbemessungskommission ermittelten Regelsätze sind entsprechend der erwarteten Preisentwicklung für den regelsatzrelevanten Bedarf jährlich anzupassen. Im Abstand von fünf Jahren überprüft die Bedarfsbemessungskommission die Bedarfsdeckung nach der 60%-Grenze sowie die Angemessenheit der Referenzwarenkörbe.

4.2) Eigenständige Mindestsicherung für Kinder

Im Rahmen dieses Konzepts wird eine eigenständige Mindestsicherung für Kinder und Jugendliche realisiert, indem

  1. die mit der Bemessung der Regelleistungen beauftragte Sachverständigenkommission auch eine altersspezifische Bemessung des Regelbedarfs für Kinder und Jugendliche vornimmt und diese in fünfjährigem Rhythmus überprüft. Die Leistungen schließen alle typischerweise anfallenden Aufwendungen (z.B. Klassenfahrten) ein. Die Dynamisierung der Leistungen erfolgt auf Basis der Preisentwicklung der altersspezifischen Referenzwarenkörbe. Die bisher übliche Ableitung des Kindesbedarfs vom Regelbedarf Erwachsener wird damit aufgegeben.
  2. der individuelle Leistungsanspruch auch bei Kindern umgesetzt wird. Eine alleinerziehende Person, die über ausreichend Einkommen zur Deckung ihres eigenen, aber nicht des Kindesbedarfs verfügt, hat selbst keinen Leistungsanspruch, sondern verwaltet lediglich die Geldleistung für das Kind. Die verfehlte Konstruktion der „Bedarfsgemeinschaft“ (SGB II) wird aufgegeben.
  3. die Regelungen bezüglich bestehender Unterhaltsleistungen und -ansprüche entsprechend gelten. Damit bleiben Unterhaltsverpflichtungen nach dem BGB insofern unangetastet, als Elternteile, die ein Einkommen oberhalb der Pfändungsfreigrenze haben, vom Mindestsicherungsträger zur Refinanzierung der Mindestsicherung ihrer leiblichen oder adoptierten Kinder herangezogen werden.

4.3) Sofortige Leistungsanhebungen

Da eine Verbesserung der Lebenssituation der Armutsbevölkerung keinerlei Aufschub zulässt, wird der Eckregelsatz in korrekter Umsetzung der Regelsatzbemessung nach dem SGB II sofort auf 435 €2 für Alleinstehende (Wert 2008) erhöht.

Als Sofortmaßnahme zur Bekämpfung von Kinderarmut wird die Höhe der Mindestsicherung für Kinder wie folgt angesetzt: Bis-zu-5-Jährige erhalten 300 €, 6-bis-11-Jährige 340 und 12-bis-18-Jährige 390 €.

4.4) Wohnkosten

Angemessene Wohnkosten (Kaltmiete einschließlich der Nebenkosten) werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen übernommen. Höhere Wohnkosten werden im Einzelfall übernommen, wenn ein Wohnungswechsel nicht zumutbar ist. Eine Wohnung ist angemessen, solange die Miete den Mittelwert des örtlichen Mietspiegels für eine Wohnungsgröße des Haushalts nach Kriterien des sozialen Wohnungsbaus in der jeweiligen Baualtersgruppe, erhöht um einen Zuschlag von 20%, nicht übersteigt.

Ein Umzug ist unzumutbar, wenn er eine soziale Härte darstellt (z. B. bei angestammtem Umfeld alter Menschen, Schulwechsel des Kindes oder drohender Wohnungslosigkeit) oder wenn die Kommune keine angemessene Ersatzwohnung nachweisen kann.

4.5) Sozialversicherungsbeiträge

Beiträge zur Gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung werden übernommen. Die entsprechenden Beträge orientieren sich an der Höhe jener Beiträge, die zu zahlen wären, wenn der Mindestsicherungsbedarf durch ein sozialversicherungspflichtiges Erwerbseinkommen oder Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung gedeckt wäre.

Beiträge für private Krankenversicherungen werden nur übernommen, wenn dem/der betroffenen Versicherten ein Wechsel in die gesetzliche Versicherung nicht möglich ist.

4.6) Mehrbedarfszuschläge

Manche Personenkreise (z.B. allein erziehende, behinderte oder längerfristig kranke Menschen) benötigen aufgrund ihrer besonderen, aber regelhaft bestehenden Lebensumstände regelmäßig eine höhere Geldleistung, um am soziokulturellen Leben teilhaben zu können.

Die Bedarfsbemessungskommission überprüft auch die Sachgerechtigkeit und Angemessenheit der Mehrbedarfsregelungen nach bisherigem Fürsorgerecht. Bis zur Entscheidung über abweichende Vorschläge gelten die bisherigen Anteilssätze der Mehrbedarfszuschläge fort.

5) Sonderbedarfe (einmalige Leistungen)

Ziel der Mindestsicherung ist die Absicherung gegen regelhaft auftretende Einkommensarmut. Sie kann nicht auf alle individuellen Problemlagen und Wechselfälle des Lebens reagieren. Insoweit bleibt die frühere „Hilfe in besonderen Lebenslagen“/ heute: „sonstige Hilfen“, fünftes bis neuntes Kapitel) nach dem SGB XII bestehen. Dort gehören auch die zur Deckung von Sonderbedarfen im Einzelfall notwendigen ergänzenden Leistungen hin.

Die Fiktion eines „Ansparens“ von Mitteln aus den Regelleistungen zur Deckung von Sonderbedarfen wird aufgegeben. Stattdessen wird der Katalog der einmaligen Leistungen so ergänzt, dass möglichst ermessensfreie und bedarfsdeckende Leistungsansprüche nach dem Sozialhilferecht gewährleistet sind.

6) Anrechnung von Einkommen und Vermögen; Familiensubsidiarität

Eigenes Einkommen und/oder Vermögen sind vorrangig einzusetzen. Um den Leistungsanspruch und seine Höhe festzustellen, ist eine Bedarfsprüfung unerlässlich. Diese wird auf ein bürgerrechtlich vertretbares, die Würde der Leistungsberechtigten achtendes Maß zurückgeführt. Wohnungsbesuche durch sog. Bedarfsermittlungsdienste werden abgeschafft.

Für die Einkommensanrechnung maßgeblich sind die um Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und weitere rechtlich begründete Faktoren bereinigten Nettoeinkommen. Einkommensarten, die der Deckung des laufenden Lebensunterhaltes dienen, werden angerechnet, andere Einkommensarten bleiben anrechnungsfrei. Dazu zählen insbesondere Pflege-, Schmerzens- sowie das Mutterschaftsgeld. Das Kindergeld wird als Einkommen des Kindes angerechnet, sobald die Höhe der Mindestsicherung für Kinder bedarfsdeckend bemessen ist. Bis dahin bleibt es anrechnungsfrei, da es (in Form steuerlicher Kinderfreibeträge) einkommensunabhängig auch Einkommensmillionären gezahlt wird. Unterhaltsansprüche nach dem BGB gehen der Mindestsicherung vor. Barunterhaltsverpflichtungen einer bedürftigen Person, die eigenes Einkommen erzielt, sind vom Einkommen abzusetzen.

Unterhaltszahlungen an eine bedürftige Person (z.B. aus ehelicher Lebensgemeinschaft) werden dieser als Einkommen angerechnet. Der Träger der Mindestsicherung prüft die (Nicht-)Leistung von Unterhaltsansprüchen nicht bei der bedürftigen, sondern bei der unterhaltspflichtigen Person. Nicht realisierte Unterhaltsansprüche werden auf den Träger übergeleitet und von diesem zur Refinanzierung beigetrieben. Auch bei zusammenlebenden Paaren hat jede tatsächlich bedürftige Person einen eigenständigen Anspruch auf Mindestsicherung. Die im Rahmen der bisherigen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung geltende Einschränkung der Berücksichtigung von Unterhaltsansprüchen (§ 42 Abs. 2 SGB XII) wird fortgeführt.

Im Übrigen sind die bislang nach SGB II und XII geltenden Regelungen zur Einkommens- und Vermögensanrechnung insbesondere mit folgenden Zielen zu überprüfen und anzupassen: Sicherung von Freibeträgen, die vom eigenen Einkommen aus Erwerbstätigkeit abgesetzt werden können, um das Bemühen um eigenständige Existenzsicherung zu honorieren, wobei der absetzbare Anteilam Einkommen aus Erwerbstätigkeit nicht über das heutige Niveau hinaus steigen soll; Vermeidung von Fehlanreizen zur Aufnahme einer nicht existenzsichernden (z.B. geringfügigen oder niedrig entlohnten) Beschäftigung bei fortdauernder Bedürftigkeit; Vermeidung von Privilegierungen der privaten gegenüber der gesetzlichen Altersvorsorge.

So lange Abbau und Teilprivatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung nicht wirksam korrigiert sind, sodass eine Rentenlücke nur durch Privatvorsorge geschlossenen werden kann, und so lange eine vorrangige Absicherung bei Langzeiterwerbslosigkeit noch fehlt, werden die bisherigen Regelungen der Einkommens- und Vermögensanrechnung nach SGB II und XII grundsätzlich fortgeführt.

7) Mindestsicherung und Arbeitsmarkt

Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs“) werden abgeschafft. Der Umfang regulär-tariflicher öffentlicher Beschäftigung ist auszubauen. Leistungsberechtigte, die erwerbslos sind oder zu geringe Einkommen erzielen, haben Zugang zu allen Angeboten der Arbeitsförderung nach dem SGB III und sind grundsätzlich verpflichtet, sich um Existenzsicherung durch eine entsprechende Erwerbstätigkeit zu bemühen. Für die Zumutbarkeit gelten die Bestimmungen nach dem SGB III.

Der Anspruch auf Mindestsicherung muss „voraussetzungslos“ bestehen, wenn und so lange der Bedarf sonst nicht gedeckt ist. Das tatsächliche Bestehen einer Bedürftigkeit ist die einzige Anspruchsvoraussetzung. Jede weitere Bedingung (z.B. die Aufgabe „unerwünschter Verhaltensweisen“) oder Sanktion (Leistungskürzung oder entzug) kollidiert mit dem aus Art 1 GG hergeleiteten Ziel der Sicherung eines menschenwürdigen Lebens. Daher müssen leistungsrechtliche Sanktionen, z. B. bei Ablehnung einer angebotenen Beschäftigung, entfallen. Dies ist nicht gleichbedeutend mit einer Hinnahme oder gar Billigung von „Arbeitsverweigerung“. Es bedeutet lediglich, dass die Allgemeinheit dem Vorrang der Existenzsicherung durch Erwerbstätigkeit auf andere Weise (z.B. Maßnahmen der Sozialen Arbeit, reelle arbeitsmarktpolitische Unterstützungsangebote zur Erwerbsintegration) Geltung verschaffen muss.

8) Zusammenhang mit dem gesetzlichen Mindestlohn

Die bedarfsdeckende soziale Mindestsicherung ist unter Umsetzung der genannten Sofortanhebungen der Regelleistungen unverzüglich einzuführen. Die Inkraftsetzung der neuen, von der Sachverständigenkommission vorzuschlagenden Bemessung der Regelleistungen erfolgt zeitnah im Zusammenhang mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes für alle abhängig Beschäftigten, der dauerhaft ein Existenz sicherndes Entgelt für Vollzeitbeschäftigte sicherstellt.

Der gesetzliche Mindestlohn ist insoweit vorrangig, als jede weitere Ausweitung der öffentlichen Subventionierung von Armutslöhnen vermieden werden muss. Dabei geht es nicht nur um die erheblichen fiskalischen Auswirkungen einer Ausweitung des leistungsberechtigen Personenkreises, sondern auch – und nicht zuletzt aus Gründen der Akzeptanzsicherung für das Mindestsicherungssystem – um das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden, das eine regelhafte Besserstellung von Vollzeitbeschäftigten gegenüber nicht erwerbstätigen Transferleistungsbeziehenden fordert. Damit der Mindestlohn seinen Zweck erfüllen kann, muss er so bemessen sein, dass er ein Vollzeiteinkommen oberhalb der Armutsgrenze von 60% des mittleren verfügbaren Einkommens für Alleinlebende sichert.

9) Administrative Gestaltung: Leistungen „aus einer Hand“

Die administrativen Zuständigkeiten der Mindestsicherung orientieren sich am Prinzip der Leistungserbringung aus einer Hand. Die Prüfung der Leistungsvoraussetzungen und die Auszahlung sollen dort erfolgen, wo die primäre Zuständigkeit für den jeweiligen Risiko- bzw. Lebenstatbestand liegt. Somit sind für die Mindestsicherung als Auftragsverwaltung des Bundes zuständig: die örtlichen Arbeitsagenturen bei Erwerbslosigkeit (unabhängig von Ansprüchen aus der Arbeitslosenversicherung), der Rentenversicherungsträger bei Anspruchsberechtigten, die das Rentenalter erreicht haben oder dauerhaft voll erwerbsgemindert sind (bisherige „Altersgrundsicherung“ SGB XII), die Finanzämter bei unzureichenden Erwerbseinkommen und die Sozialämter in den verbleibenden Fällen.

Damit wird die Konzentration der bedürftigen Bevölkerungsgruppen auf „Sonderverwaltungen“, wie sie heute die ARGEn und Sozialämter darstellen, aufgegeben, was wesentlich zum durchgreifenden Abbau von Stigmatisierungen und Zugangsschwellen beiträgt. Liegen die Erwerbseinkommen bzw. Versicherungsleistungen unterhalb des Mindestsicherungsniveaus, müssen die zuständigen Stellen über die Möglichkeit des Vorliegens eines Mindestsicherungsanspruchs informieren.

10) Finanzierung

Die Kosten der Mindestsicherung trägt der Bund, weil er von allen politischen Ebenen diejenige ist, die den Ursachen der Armut am ehesten begegnen kann. Den Kommunen verbleiben die Kosten für die Hilfe in besonderen Lebenslagen (Sonderbedarfe, SGB XII).

Zur Finanzierung der Mehraufwendungen gegenüber den bisherigen Systemen wird insbesondere die Besteuerung des privaten Einkommens- und Vermögensreichtums entsprechend erhöht (Fortführung der progressiven Einkommensbesteuerung oberhalb des heutigen „Spitzensteuersatzes“; Beseitigung der steuerlichen Privilegierung hoher Kapitaleinkünfte durch die Abgeltungssteuer, Vermögens-, Erbschafts-, Schenkungssteuer mit progressiver Gestaltung). Darüber hinaus kommen u.a. eine bessere personelle Ausstattung der Finanzbehörden zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung (Betriebsprüfung und Steuerfahndung) sowie geeignete Maßnahmen bei der Unternehmensbesteuerung in Betracht.

Anmerkungen

[1] Für DIE LINKE ist kein Mensch illegal. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass allen Menschen, die sich ohne Papiere in der Bundesrepublik aufhalten, ein legaler Aufenthalt ermöglicht wird.

[2] Die Summe entspricht dem Betrag, der sich nach Berechnung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bei sachgerechter Umsetzung des geltenden Bemessungsverfahrens unter Berücksichtigung der Preisentwicklung für 2008 ergibt. Der Betrag ist nicht bedarfsdeckend, weshalb weitergehende Forderungen völlig berechtigt bleiben. Gleichwohl wird er hier für eine sofortige Erhöhung des Regelsatzes gewählt, weil damit die notwendige Durchsetzungsfähigkeit für eine rasche Leistungsverbesserung am ehesten erreichbar ist.

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