Braunkohle und ihre sozialen Kosten

Anti-Braunkohle-Initiativen, die sich für einen sofortigen Stopp der Energieerzeugung auf Basis von Braunkohle engagieren, weisen zurecht darauf hin, dass die Erzeugung von Endenergie auf Basis von Braunkohle die höchsten CO2-Emissionen pro kWh produzierten Stroms verursacht.

Ebenfalls weisen sie zurecht darauf hin, dass Braunkohlekraftwerke einen geringen Wirkungsgrad haben, dass also das Verhältnis von verwendbarer Endenergie zur eingesetzten Primärenergie nicht besonders hoch ist. Ich habe gegen diese Befunde keinerlei Einwände.

Des Weiteren konzedieren diskussionsbereite Aktivisten zwar, dass Braunkohle gut dazu taugt, eine Regelleistung an Strom vorzuhalten, betonen jedoch deren Probleme bei Schwankungen. Konkret bedeutet das, dass bei niedrigem Strombedarf zu viel Strom produziert wird, also auch nicht benötigter Strom, der bislang noch nicht richtig gut gespeichert werden kann. Auch hier d’accord.

Trotz hier und da auftretender Schwierigkeiten, den Klimawandel felsenfest mit registrierten Temperaturanstiegen zu belegen, wird von der übergroßen Mehrheit der Forschenden anerkannt, dass es den Klimawandel gibt, dass er ein enormes Problem darstellt und ihm entgegenzuwirken ist. Ich zweifele jedenfalls nicht an der Existenz des Klimawandels.

Darüber hinaus gilt aber, dass wir in einer kapitalistischen Geldwirtschaft leben. Das hat mehrere Konsequenzen:

So kommt es nicht nur auf Energie- und CO2-Quanten an, sondern auch auf preislich bewertete Größen. Und da gilt, dass trotz des geringen Wirkungsgrades bei der Erzeugung die produzierte und verwendbare Einheit braunkohlebasierter Endenergie auf dem Markt vergleichsweise wenig ct/kWh kostet.

Das heißt: Das verfügbare Realeinkommen der Haushalte und Unternehmen ist beim Einsatz von Braunkohle für Verstromung aktuell höher als beim Einsatz von regenerativen Energieträgern. Davon haben vor allem gering verdienende Haushalte und solche Unternehmen einen Vorteil, die in der Industrie aktiv sind und vergleichsweise energieintensiv produzieren. Hierauf nehmen Anti-Braunkohle-Initiativen leider kaum Bezug.

Überdies arbeiten etliche Lohnabhängige in der braunkohlebasierten Ökonomie im weiten Sinne, das heißt genau gesagt: in der Braunkohlegewinnung, -verarbeitung, -verstromung und auch in Unternehmen, die energieintensiv produzieren und sich hierfür der durch Braunkohle erzeugten Energie bedienen. Zudem hängen hieran auch Dienstleistungsbetriebe, die von dieser Wertschöpfung Nutzen ziehen. Auch darauf nehmen Anti-Braunkohle-Initiativen leider kaum Bezug.

Schließlich generieren CO2-Emissionen externe Effekte, also gesellschaftliche Kosten, die in der Kostenrechnung der Unternehmen nicht internalisiert werden, da sie – und das ist wichtig – gar nicht preislich bewertet sind. Ich stimme den Anti-Braunkohle-Initiativen zu, dass es diese Kosten gibt, aber ich habe Zweifel an ihren im Brustton der Überzeugung vorgelegten Größenangaben.

Die bei der Produktion von braunkohlebasierter Endenergie anfallenden Kosten für Haushalte und Unternehmen setzen sich zusammen aus dem durch Arbeit mitgebildeten Preis von Vorleistungen, aus Finanzierungskosten und aus dem durch Arbeit mitgebildeten und neu zugesetzten Wert (Marxsche Kategorie), also der Wertschöpfung, die sich wiederum aufteilt auf Lohn als Preis der Arbeitskraft und auf Profit als preislich ausgedrücktem Mehrwert.

Nun wird jedoch in der Tat – wenn wir es mal plastisch ausdrücken wollen – auch ein Teil der Natur, etwa die Gesundheit oder die Atmosphäre, „vernutzt“, die aber, da es sich um ein sogenanntes freies Gut handelt, preislich betrachtet gar nichts kostet. Gleichwohl gibt es diese Vernutzung. Wie soll sie bewertet werden?

Man kann sich daran orientieren, was es an Behebungskosten verursacht, Schäden infolge des Klimawandels zu beheben: Schäden an Gesundheit etwa. Das Problem ist aber, diese Schäden eindeutig auf Klimawandel oder präziser: auf CO2-Emissionen zurückzuführen. Gesundheit wird nämlich durch vieles tangiert: durch Stress, Umwelteinflüsse aller Art, wozu nicht nur CO2-Emissionen gehören, soziale Faktoren, Armut, Arbeitslosigkeit usw.

Das Umweltbundesamt etwa bezieht sich in seinen Materialien auf Berechnungen einzelner Studien, die dafür 10,75 ct/kWh veranschlagen, weswegen z. B. der „eigentlich“ korrekte braunkohlebasierte Strompreis neben den Gestehungskosten inkl. Gewinnzuschlag von 3 ct/kWh auch die sozialen Kosten von 10,75 ct/kWh integrieren und sich also auf 13,75 ct/kWh belaufen müsse.

Allerdings stellt sich bei allen Studien die Frage: Wie kommt man auf solche Werte wie 10,75 ct/kWh? Welche Berechnungen wurden zugrunde gelegt? Wurde mit stochastischen Ansätzen gearbeitet? Welche Korrelationen liegen vor? Wurden auch soziale Kosten durch Arbeitsplatzverlust, reduziertes Realeinkommen, soziale Unsicherheit usw. gewürdigt?

Aber ich will zugestehen, dass das eine sehr schwere Frage ist. Ich habe hierauf keine gute Antwort, aber ich tue auch nicht so, als hätte ich sie und könnte sie mal eben so taxieren. Und da hilft auch kein Verweis auf einen Link irgendeiner Studie. Deren gibt es nämlich sehr viele.

Das ist aber auch nicht der entscheidende Punkt, da ich selber der Auffassung bin, dass soziale Kosten mitzudenken sind – auch wenn ihre preisliche Erfassung methodisch schwierig ist. Entscheidend ist für mich vielmehr, dass linke Ansätze über Ansätze grüner Bewegung hinausgehen müssen.

Gewiss sollte auch ein linker Ansatz grüne Gattungsfragen mitberücksichtigen. Was die Menschheit bedroht, geht schließlich auch Linke an. Und dass die Folgen des Klimawandels im armen Süden überproportional anfallen, müssen Linke erst recht beachten. Auch müssen sie sich Gedanken darum machen, dass zugunsten der Lohnabhängigen neue ökonomische Teilsektoren entstehen, die auch in 50 Jahren noch tragfähig sind.

Linke jedoch müssen sich auch ums Hier und Jetzt kümmern. Die Lohnabhängigen, die in der braunkohlebasierten Ökonomie im weiten Sinne (siehe oben) arbeiten, haben Existenzängste, die Linke mitdenken sollten. Ganze Landstriche sind heute noch von der Braunkohle abhängig – und das geht bis hin zu Dienstleistungen, die aktuell noch von dort Beschäftigten nachgefragt werden und bei Arbeitslosigkeit nicht mehr nachgefragt werden. Und ärmere Menschen haben zurecht Angst vor Preissteigerungen durch die Energiewende.

Kurzum: Es wird darauf ankommen, hier einen Strukturwandel zu organisieren, der die Interessen aller Lohnabhängigen mit und ohne Job in den Blick nimmt. Ich denke, dass Linke hier mit progressiven Konzepten aufwarten sollten.

Welche Übergangsfristen für Braunkohleförderung in höherem Umfang soll es also geben? Was soll an KWK stattfinden? Geht auch clean coal? Soll Braunkohle eine Brückentechnologie bleiben? Geht Konversion von Braunkohleerzeugung hin zur Erzeugung von regenerativen Energien? Wenn nicht komplett, was gibt es dann für alternative Jobangebote, die staatlich induziert angeboten werden könnten?

Und: Wie kann die Förderung regenerativer Energien sozial verträglicher als heute verlaufen? Heute wird sie nämlich als Aufschlag auf den Strompreis organisiert, was wie bei der Umsatzsteuer als preislich wirkende Maßnahme Menschen mit hoher Konsumquote, also vor allem Geringverdienende, überproportional belastet. Soll und kann es nicht stattdessen eine Art Energiesolidaritätszuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer geben? Usw. usf.

Anders formuliert: Ein rapider Strukturbruch anstelle eines Strukturwandels würde ebenfalls soziale Folgekosten bewirken: Krankheit durch Stress, durch Angst, durch Arbeitslosigkeit, Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit, Wohlfahrtsverluste durch Preissteigerungen, die das volkswirtschaftlich verfügbare reale Endprodukt mindern.

Von all diesen Fragen sehe ich bei den Bekundungen von Anti-Braunkohle-Initiativen kaum etwas, und das finde ich falsch.

Selbstverständlich gilt es für alle sich fortschrittlich wähnenden Parteien wie auch für Gewerkschaften, auf diese Fragen angemessene Antworten zu finden. Aber lasst uns diese Fragen tatsächlich umfassend beantworten, also inkl. der sozialen Dimensionen.

Fazit: Die Braunkohleproduktion sollte reduziert werden, aber in der Frage des Wie und der sozialen Folgekosten gibt es zu füllende Leerstellen.

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