Seien wir ehrlich: Ich bin Sozialist, habe daher die FDP noch nie gewählt und werde dies auch in Zukunft nicht tun. Allerdings trage ich liberale Züge in mir und wünsche mir eine Gesellschaft, in der die
“Freiheit (darin) besteht, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln” (Marx, MEW 19, 27).
In einem Dreieck aus Gesellschaft, Staat und Individualität soll der Staat m. E. das freie Ausleben der Individualität fördern, wobei der Staat heute “auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft” (ibidem, 28) steht und sich künftig bei Veränderung der Gesellschaft selbst ändern muss und wird. Die Marxsche Parole von der “revolutionären Diktatur des Proletariats” (ibidem) fand ich schon immer falsch, weil sie den Eindruck vermittelt, es mit dem nicht-autoritären Ansatz eines der Gesellschaft untergeordneten Staatsorgans nicht ernst zu meinen.
Was also tun als Sozialist? Ich engagiere mich erstens dafür, dass die Gesellschaft ihre Produktivkräfte entfaltet und egalitärer wird; zweitens dafür, dass der Staat zur Produktivitäts- und Egalitätsentwicklung beiträgt; drittens dafür, dass der Staat die individuellen Spielräume erweitert, statt sie einzuengen.
Die FDP, ich gebe es zu, leistet für den dritten Aspekt zuweilen auch gute Arbeit. Wenn es darum geht, Bürgerrechte zu sichern und zu weit gehende Eingriffe des Staats in die individuelle Sphäre zu verhindern, bin ich ganz froh, dass es eine FDP gibt. Und auch in der Corona-Pandemie fand ich zwar nicht die FDP-Politik in ihren Details gut, wohl aber ihr Bestreben, Lockdowns nur bei belegter Notwendigkeit zuzustimmen, und ihr schulpolitisches Ansinnen, die Vorzüge des Präsenzunterrichts zu betonen.
Geht es hingegen um die ersten beiden Aspekte, bleibt die FDP weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Um das aufzuzeigen, schauen wir auf Worte von John Maynard Keynes, dessen Selbstverortung als Teil der Bourgeoisie ich mich nicht anschließen mag und kann, den ich jedoch als größten Ökonomen des 20. Jahrhunderts und als sozial orientierte Persönlichkeit bewundere. Keynes verstand sich als progressiven Liberalen und schrieb 1943 im Text “Das langfristige Problem der Vollbeschäftigung” (Keynes, Collected Writings 27, 321, Übersetzung nach K. G. Zinn):
“Nach dem Krieg werden sich voraussichtlich drei Phasen einstellen:
(i) wenn der Investitionsanreiz, falls unkontrolliert, zu einem Investitionsvolumen führt, das größer ist als das angezeigte Sparniveau bei fehlender Bewirtschaftung und fehlenden anderen Kontrollen;
(ii) wenn die dringend notwendige Investition nicht länger größer als das angezeigte Sparniveau unter freien Bedingungen ist, aber noch dem angezeigten Sparniveau durch bewusste Ermutigung oder Beförderung weniger dringlicher, aber nichtsdestotrotz nützlicher Investitionen angepasst werden kann;
(iii) wenn die Investitionsnachfrage soweit gesättigt ist, dass sie nicht mehr auf das angezeigte Sparniveau angehoben werden kann, ohne sich auf verschwenderische oder unnötige Unternehmungen einzulassen.”
M. E. befinden wir uns im Übergang von Phase ii in Phase iii. Bei rückläufig steigender privater Konsumnachfrage und daher auch privater Investitionsnachfrage erreicht die Investitionshöhe entweder nur noch mit Mühe die Ersparnishöhe (I = S), die dem Vollbeschäftigungseinkommen entspricht, oder bleibt sogar hierhinter zurück (I < S). Die ungleiche Einkommensverteilung, gepaart mit Sättigung höherer Einkommensgruppen, bremst offenbar den Konsumanstieg und somit den Anreiz zu steigenden privaten Investitionen. Womöglich, das wäre ein Marxsches Argument, hemmt auch ein tendenzieller Fall der Profitrate private Investitionen.
Da die privaten Investitionen zu jedem Zeitpunkt hinter den Ersparnissen zurückzubleiben drohen, sinken Produktion, Einkommen und Beschäftigung immer wieder so lange, bis die dadurch sinkende Ersparnis aufs Investitionsniveau fällt. Folglich lastet die Ökonomie ihre Kapazitäten nicht aus. Wie lässt sich diesem Dilemma abhelfen? Keynes schlug Folgendes vor:
“Es wird notwendig sein, sinnvollen Konsum zu fördern, Sparen zu missbilligen – und einen Teil des unerwünschten Überangebots durch vermehrte Freizeit zu absorbieren, mehr Urlaub (welches ein wunderbar angenehmer Weg ist, Geld loszuwerden) und kürzere Arbeitszeiten.” (ibidem, 323)
Und nicht nur das: Verzeichnet die Bundesrepublik beim Haushalts- und beim Unternehmenssektor Finanzierungsüberschüsse, kann dies nur durch den instabilen Ansatz dauerhaft großer Exportüberschüsse oder durch den sinnvollen Weg von mehr schuldenfinanzierten öffentlichen Ausgaben ausgeglichen werden.
Wir fassen zusammen: Wir brauchen heute Staatsausgaben über Staatsschulden und Steuern. Künftig bräuchten wir mehr sinnvollen Konsum, weniger Ersparnis und dafür neben anderen Formen der Konsumförderung auch eine gleichere Einkommensverteilung. Denn diese regt durch ihre Konsumförderung die Investitionen vermutlich eher an, als sie über erhöhte Lohnkosten zu bremsen.
Doch die FDP scheint sich dieser Erkenntnis zu verweigern und zu verschließen. Sie müsste anerkennen, dass der Konsum zwar nicht sinkt, aber sein Wachstum schwächelt und dass daher auch das Wachstum der Investitionen gebremst verläuft. Und sie müsste begreifen, dass für eine prosperierende Volkswirtschaft mehr Egalität, mehr öffentliche Ausgaben und eine Abkehr von der Politik der Staatsschuldenvermeidung sinnvoll sind. Stattdessen skizziert die FDP ohne Beleg das alte Zerrbild, wonach private Investitionen angeblich durch einen Steuer-, Schulden- und Bürokratiestaat gehemmt würden. Ihr wirtschaftspolitisch schlechtes Programm lautet daher so:
“Unsere Wirtschaft braucht einen Neustart. Und muss wieder auf Wachstumskurs gebracht werden. Wir brauchen sichere und zukunftsfähige Arbeitsplätze. Wie? Entlasten, entfesseln, investieren. Noch ist Deutschland bei Steuern und Abgaben Weltmeister. Auf diesen Titel verzichten wir gern. Denn das schadet Betrieben, Beschäftigten, Selbstständigen. Unsere Ideen: Entlasten, wo es nur geht. Bürokratie und Steuererhöhungen sind Sabotage am Aufschwung. (…) Nachhaltigkeit gilt auch für unsere Staatsfinanzen. Deshalb stehen wir konsequent zur Schuldenbremse, künftige Generationen brauchen Zukunftschancen, keine Schuldenberge.” (FDP-Wahlbroschüre 2021)
Diese FDP-Sicht der Dinge ist fehlgeleitet. Dass es nicht überall, wohl aber bisweilen Spielraum für Bürokratieabbau gibt, stimmt. Aber dass Unternehmen mehr investieren würden, wenn der Staat auf Staatsverschuldung verzichten, seine Ausgaben reduzieren und die Ungleichheit durch Steuersenkungen erhöhen würde, ist und bleibt eine völlig falsche Sicht der Dinge.
Doch nicht nur das: Dass die FDP als nicht-sozialistische Partei nicht für mehr Egalität als eigenständiges Ziel eintritt, wundert nicht. Doch wäre es wohl ein liberales Ziel, gesellschaftliche Produktivkräfte zu entfalten und mit dem Staat hierzu beizutragen. Genau das ist aber mit dem FDP-Programm nicht der Fall. Prosperität und qualitatives Wachstum werden gebremst; die Produktivitätsentwicklung bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück; Kapazitäten werden nicht ausgelastet.
Damit, man muss es klar und deutlich sagen, verfehlt die FDP ihre selbstgesteckten Ziele: Sie erhöht erstens nicht die Spielräume für Individualität, sondern engt sie ein. Zweitens verharrt das (durch Sättigung ohnehin rückläufige) BIP-Wachstum bei unzureichender Produktivitätsentwicklung auf schwächerem Niveau als möglich und hemmt dadurch die volkswirtschaftlich mögliche Surplusmenge.