Seit etwa 10 Jahren gibt es eine offenbar unwiderstehliche Tendenz in der Partei Die LINKE, die ich als Politsoziologisierung bezeichne.
Gefragt wird von nahezu allen Parteirichtungen nicht mehr in erster Linie, wie die Wirklichkeit der Sache nach aussieht, welche Probleme und welche Ziele es hierbei gibt und welche Politik notwendig ist, um die Probleme einzudämmen und den Zielen näher zu kommen.
Stattdessen wird von nahezu allen Parteirichtungen vor allem die Frage gestellt, welche Probleme und Ziele verschiedene soziale Gruppen haben, auf welche Gruppen die Partei orientieren solle, wie die Partei durch diese Gruppen beeinflusst werden und wie sie diese umgekehrt beeinflussen solle.
Nun ist die letzte Frage nicht bedeutungslos. Eine Partei muss sich mit Interessenkonstellationen in der Gesellschaft befassen, will sie in der Konkurrenz zu anderen Parteien reüssieren. Und was ein Problem und was ein Ziel ist, ist nicht zu beantworten ohne parteiliche Verortung innerhalb der Interessenkonstellationen.
Doch da die letzte Frage über- und die erste unterbelichtet ist, kommt die Wirklichkeit der Sache in der Parteiarbeit zu kurz. Das Resultat: Die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung erhalten zu wenig Gelegenheit, die Sicht der Partei auf die Wirklichkeit der Sachen und auf gesellschaftliche Probleme und Ziele zu bewerten und die Politikkonzeptionen der Partei zu beurteilen.
Auch versucht die Partei zu wenig, zuerst stimmige Politikkonzeptionen zu entwickeln und danach diese Politikkonzeptionen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu offerieren, um damit zu überzeugen: einige Gruppen mehr, andere eben weniger. Umgekehrt versucht die Partei zu sehr, sich zuerst auf gesellschaftliche Gruppen zu kaprizieren und danach Politikkonzeptionen extra für diese gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln, um sich diesen Gruppen gleichsam anzudienen.
Das eine Problem: Die Wahlergebnisse der Partei zeigen, dass die taktisch motivierte Heranwanzung an gesellschaftliche Gruppen unter Vernachlässigung der Wirklichkeit der Sache nicht trägt.
Das andere Problem: Die Partei verkennt, dass im Kapitalismus die gesellschaftlichen Beziehungen der Privatarbeiten den lohnabhängig Tätigen nicht nur als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen erscheinen, sondern auch sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen sind (Marx, Karl: Das Kapital, Band I, in: MEW 23, S. 87). Mehr Sachanalyse tut also not.
Umgekehrt gilt: Die gesellschaftlichen Beziehungen der Privatarbeiten sind im Kapitalismus eben keine unmittelbar gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen, die durch die Sachebene nur verschleiert würden. Daher ist der Ansatz einer Politsoziologisierung mit zu wenig Sachanalyse und zu starkem Fokus auf die Analyse von Personenkonstellationen nicht sinnvoll.