Nein, tot ist sie noch nicht, die LINKE. Denn auf der Klippe stehend, hat sie sich am Wochenende in Erfurt dazu entschlossen, nicht zu springen. Doch stabil steht die Partei nach wie vor nicht da, und zum Gang in erfolgreiche Gefilde hat es in Erfurt noch nicht gereicht. Hierfür wäre es erforderlich, in vier Bereichen Verbesserungen zu erreichen, die bislang allesamt noch ausstehen.
1) Außenpolitische Konsistenz
Immerhin hat es die Partei geschafft, sich von Putins Krieg gegen die Ukraine zu distanzieren. Doch für eine konsistente außenpolitische Position reicht dies nicht. Konsistent wäre es, entweder Verständnis für Putins Politik mit Antiinterventionismus (das ist nicht meine Linie, aber sie ist konsistent) oder aber Kritik an Putin mit Interventionismus zu kombinieren (wie es mir vorschwebt). Gewählt wurde aber Kritik an Putin mit Antiinterventionismus. Das wird das unklare Bild in der Öffentlichkeit nicht genügend aufhellen.
Aufgabe wäre es also, sich neben der Formulierung einer Haltung auch mit der Frage zu befassen, wie praktisch-intervenierende Politik aussehen könnte. Wie hält man es mit Embargos? Wie steht man zur Lieferung und zum Einsatz militärischer Mittel? Welche Rolle hat Diplomatie? Welches Verhältnis nimmt man ein in der Abwägung zwischen ökonomischen Interessen und ethischen Erwägungen?
2) Eine schlüssige außenpolitische Sicht
Das Weltbild vieler Genossinnen und Genossen ähnelt nach wie vor dem einer Räuberpistole. Da gäbe es mächtige Personen in monopolisierten Banken und Konzernen, und diese würden sich Staaten untertan machen, woraus Kriege resultieren würden. Doch es gibt im Gegensatz zu Lenin nicht nur Monopolisierung und Verschmelzung, keine automatische Tendenz zu höherer Bedeutung von Kapitalexport, keine zwingende Notwendigkeit zur Aufteilung der Märkte durch internationale monopolistische Kapitalistenverbände und auch keine zur territorialen Aufteilung der Erde unter kapitalistische Großmächte.
Es gibt Fusionen und Wettbewerb; es gibt eine Eigengesetzlichkeit der Vergesellschaftung von Wert, die sich nicht auf abgestimmtes Handeln zurückführen lässt; Staaten sind nicht simple Spielbälle von Großkonzernen, denn es gibt Einfluss verschiedener Kapital- und Lohnabhängigengruppen auf den Staat; es gibt außenpolitische Bestrebungen auch bei Nettokapitalimport; Verwertungsinteressen von Unternehmen können zu Militärkonflikten führen, müssen es aber keineswegs; und es gibt auch nicht ökonomische Einflüsse als Motiv von Militärkonflikten; usw. usf.
3) Eine schlüssige innenpolitische Sicht
Noch immer dominiert in der Partei die Erzählung der verbindenden Klassenpolitik, bei der die LINKE sich in der Lage wähnt, in sozialen Kämpfen mitzumischen, diese geschmeidig zu verbinden und dabei Interessen zu verknüpfen. Widersprüche wären in dieser Logik vor allem Widersprüche zwischen Gruppen, und Aufgabe der LINKEN wäre es, gesellschaftliche Kämpfe um Arbeit, Soziales, Umwelt, Identitätsentfaltung usw. additiv zu verbinden. Früher hieß diese Sichtweise triple oppression, und die Antwort, die die LINKE geben möchte, lautet verbindende Klassenpolitik. Würde die LINKE es aber hierbei belassen, wäre es nur more of the same, was sie bereits bislang mit nur begrenztem Erfolg getan hat.
Verhältnisse sind aber viel mehr als die Addition sozialer Kämpfe. Das Ganze ist eine Struktur mit Institutionen, mit dem Staat, mit wirksamen gesellschaftlichen Größen wie Mengen, Ausgabenvolumina, Preisen, Zinssätzen, Profitraten, Quoten, Steuersätzen sowie mit Mentalitäten, Auffassungen, Weltbildern, Verhaltensrepertoires usw. Hinzu kommen physikalische, chemische und biologische Verhältnisse. Das alles ist doch viel mehr als die Summe personaler Konflikte. Hinzu kommt: Personale Widersprüche sind einerseits verschränkt, andererseits getrennt. Und: Menschen, die in einem Konflikt beieinanderstehen, tun dies im nächsten gegeneinander. Wie lautet hier der modus operandi?
Aufgabe der Partei ist es nicht nur, an der Seite der Verlassenen oder Disprivilegierten zu stehen, sondern Aufgabe ist es erstens, in Institutionen und gesellschaftlichen Arrangements, im Staat im engeren und im weiteren Sinne gradualistisch die Verhältnisse zu verändern — übrigens durchaus auch stellvertretend. Zweitens müsste sie in Zielkonflikten Abwägungen vornehmen und Kompromisse schließen und hätte zwischen divergierenden Interessen nicht immer angenehme Entscheidungen zu treffen. Kurzum: Sie müsste neben der Beteiligung an Kämpfen auch zwischen Kämpfen vermitteln, Gestaltungen skizzieren und politische Einflussmöglichkeiten aufzeigen, die sich auch um Regierungsfragen drehen. Das ist nicht einfach und lässt sich gewiss nicht dadurch bewerkstelligen, dass einfach Maximalforderungen herausposaunt werden.
Auszutarieren sind nicht so sehr die Befindlichkeiten und Interessen verschiedener Gruppen in der Partei, sondern vor allem die Widersprüche, Zielkonflikte und Trade-Offs, die in den Sachfragen selbst liegen. Die Partei müsste sich hierfür der Widersprüche, Zielkonflikte und Trade-Offs in Sachfragen bewusst sein, die unzureichenden Positionen der Partei in Sachfragen anerkennen und sich an die neue Erarbeitung von Positionen begeben. Die neue Erarbeitung von Positionen muss nicht identisch sein mit der Erarbeitung neuer Positionen, kann es aber und muss es auch in etlichen Fällen. Wo bisherige Positionen bestätigt werden, müssen sie besser begründet und konturiert werden. Wo bisherige Positionen revidiert werden, müssen die neuen Positionen auf Höhe der Zeit sein.
Auf Höhe der Zeit zu sein heißt: Anstatt auf bloßem Glauben oder reinem Interesse zu beruhen, müssen Positionen empirisch oder theoretisch schlüssig begründet werden. Zudem sind nicht nur die innerparteilichen Auffassungen, sondern auch die Wähleransprüche mitzudenken. Klar anzuerkennen wäre, dass das bisherige Politikangebot die Bevölkerung nicht überzeugt und auf den Prüfstand gehört. Dem korrespondiert, dass die Partei nicht nur Soziales, Ökologie oder Identität zu bearbeiten hätte, sondern auch Wirtschaft, was Arbeit einschließt, aber noch viel mehr als Arbeit und die zweifellos wichtige gewerkschaftliche Orientierung ist. Dass es im PV keinen einzigen Ökonomen gibt, spricht nicht für die LINKE.
4) Bezug auf den Hauptwiderspruch
Zentral ist nach wie vor der Hauptwiderspruch der Produktionsweise. Denn für die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft ist die widersprüchliche Produktionsweise als mal harmonischeres, mal konfliktreicheres Zusammenspiel von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entscheidend. Wenn von der Produktionsweise als Hauptwiderspruch die Rede ist, ist damit nicht gesagt, dass eine ökonomische Diskriminierungserfahrung persönlich wichtiger oder schmerzhafter als eine andere wäre. Vielmehr bedeutet das, dass es nicht allein um personale Diskriminierungserfahrungen in Konflikten sozialer Gruppen geht, sondern auch und vor allem um die ganze gesellschaftliche Struktur.
Personen als Personifikation ökonomischer Kategorien sind zwar Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und weiteren Interessen, aber in einem systemischen Prozess sind sie nur begrenzt verantwortlich für Verhältnisse, deren Geschöpfe sie sozial bleiben, sosehr sie sich auch subjektiv über sie erheben mögen. Strukturen im System bauen zwar auf vergangenen Handlungen der Akteure auf, aber sie gewinnen eine Eigengesetzlichkeit und präformieren das Handeln der Akteure, ohne dieses gänzlich zu bestimmen. Hier sind ökonomische Strukturen nach wie vor zentral.
Daher war auch der Fokus des Parteitags auf die unzureichende 11. Feuerbach-These aus Marx‘ Frühwerk: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern“, problematisch, weil er Missverständnisse produzieren kann. Freilich kommt es darauf an, die Welt zu verändern, aber nicht einfach, indem die LINKE additiv partikulare soziale Kämpfe führt. Da die LINKE keine Gewerkschaft ist, sondern eine politische Partei, müsste sie ihren Fokus auf staatlich-politische Felder richten, die die Produktionsweise als weites Feld der Allokation und Verteilung von Arbeit und Produktionsmitteln beeinflussen – und damit auch einwirken auf Verfügungs- und Verteilungsverhältnisse der Klassendimension, auf ökologische Bedingungen sowie auf Geschlechter- und kulturelle Verhältnisse.
Gewiss gibt es auch Bereiche in Verfügungs- und Verteilungsverhältnissen der Klassendimension, in ökologischen Bedingungen sowie in Geschlechter- und kulturellen Verhältnisse, die von staatlich-politischen Entscheidungen affiziert werden, die nicht direkt die Produktionsweise betreffen; und gewiss gibt es auch Bereiche, die überhaupt nicht durch staatlich-politische Entscheidungen tangiert werden. Es ist zweifellos richtig und wichtig, dass die Partei hier mitmischt, aber zentral ist dennoch der staatlich-politische Kampf um die Einwirkung auf die Produktionsweise.