Der legitime Eskapismus im Lied “Weisste noch?” von BAP

Mit dem Eskapismus ist es eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits sprechen drei Punkte entschieden gegen ihn.

Erstens: Der Eskapismus beruht auf der Vorstellung, ein Individuum könnte fliehen und somit existieren, ohne zu produzieren. Freilich ist dies einem einzelnen Fliehenden möglich, wenn die nicht Fliehenden für ihn mitproduzieren. Die Gesellschaft als ganze kann aber nicht existieren, ohne zu produzieren. Hierüber schweigt sich der Eskapismus aus.

Zweitens: Es ist kein Zufall, dass der Eskapismus vor allem bei Personen Widerhall findet, die Erfahrungen gemacht haben mit Einkommen, die nicht auf Arbeit beruhen. Das Nettonationaleinkommen (NNE) ist jedoch auf Arbeit angewiesen – freilich im Zusammenspiel mit Produktionsmitteln und der Erde. Es lässt sich darüber streiten, ob Arbeit, wie Marx behauptet, alleiniger wertbildender Faktor ist. Unbestreitbar ist aber, dass jene, die sich vom NNE Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen aneignen, es aufgrund von Eigentum statt von Arbeit tun und dies allzu oft selbstverständlich finden, obwohl doch Arbeit eine Voraussetzung war.

Drittens: Richtig wäre es, vor notwendiger Arbeit als Grundprinzip nicht einfach zu fliehen, sondern ihre sinnlosen, mit Plackerei versehenen oder im Übermaß entfremdeten Züge durch Produktivitätsfortschritte zu reduzieren und die verbleibende Summe an notwendiger Arbeitszeit gerecht in der Gesellschaft zu verteilen.

Andererseits sprechen jedoch drei Punkte dafür, dem Eskapismus versöhnlich zu begegnen.

Erstens: Notwendige Arbeit weist sinnlose, mühsame, entfremdete Züge auf. Der Eskapismus ist zwar die falsche Antwort, stellt aber zurecht Marx’ Frage, inwieweit die Individuen einerseits “ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn”, andererseits das Reich der Freiheit im Blick haben, und dies “beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.”

Zweitens: Das Reich der Freiheit ist erstrebenswert und eine schöne Möglichkeit, aber diese Möglichkeit schöpferisch zu nutzen ist womöglich einfacher gesagt als getan. Daher ist es sinnvoll, sich den schönen Dingen, die auch im Reich der Freiheit nicht widerspruchsfrei verrichtet werden können, schon frühzeitig durch temporäre Flucht vor dem Alltag zu widmen.

Drittens: Vielleicht wartet auf uns nach unserem diesseitigen, irdischen Leben doch noch ein anderes, jenseitiges. Eskapismus zwingt uns dazu, hierüber nachzudenken, und zwar auch dann, wenn wir Atheisten oder Agnostiker sind.

Wolfgang Niedecken, Sänger und Texter der Kölschen Gruppe BAP, flicht in seine Songs nicht nur auf mal mehr, mal weniger gelungene Weise Politisches ein. Er hat auch in einigen seiner Lieder ein gutes Händchen dafür, das menschliche Streben nach zeitweiliger Flucht vor dem bornierten Alltag zu skizzieren und zu würdigen. Ein Beispiel: Im wunderschönen BAP-Lied “Weisste noch?” vom 82er-Livealbum “Bess demnähx” geht es um ein lyrisches Ich, das sich an seine Kölner Jugend im sogenannten Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert.

Die Familie des Jungen hatte sich damals im bürgerlichen Leben mit seinen Entfremdungen eingerichtet: Erstkommunion, Sonntagsanzug, Kaffeetafel, hochtoupierte Frisuren, Familialismus, belangloses Gerede, Notlügen, Imponiergehabe. Dass Niedecken seine Aufzählung durch Worte wie “Pissverzäll” oder “Heuchel-Litanei” mit moralischer Anklage versieht, anstatt die gesellschaftliche Struktur zu benennen, die es Individuen nahelegt, sich so zu verhalten, ist zwar eine Schwäche, aber das ändert nichts daran, dass Niedecken das Timbre dieser Szenerie blendend zum Ausdruck bringt.

Den Kontrast zu dieser Szenerie bildet die Erinnerung des Erwachsenen an seinen jugendlichen Eskapismus, als er die Waggons auf den Güterzügen der Südbrücke zählte und davon träumte, sein Rad auf ein Boot zu schmeißen, um auf dem Rhein der Wirklichkeit zu entfliehen. Ihm schießt sein damaliger Wunsch durch den Kopf: Wie schön hätte anstelle der Erstkommunion eine gemeinsame Flucht mit der damals von ihm vergötterten Martina sein können, hätte sie ihn denn damals registriert und herangelassen, diese Martina aus der Zwirnerstraße mit ihrem betörenden Geruch aus Wrigley’s Spearmint Gum und 8×4, ihrem blonden Zopf und ihrem Karofaltenrock.

Retrospektiv ist dem lyrischen Ich bewusst: Wäre es tatsächlich zur Flucht und zur hieraus resultierenden Position zwischen allen Stühlen gekommen, hätte es zwar keine Garantie für Glück gegeben. Doch dem Gedanken der Flucht wohnt trotz aller Unzulänglichkeiten der gestern wie heute berechtigte Wunsch nach Glück und Abwesenheit von Borniertheit und Entfremdung im Alltag inne. Fazit: Wie schön wäre es doch, wenn es gelänge, Glück zu erleben und Entfremdungen zu mindern, ohne über die Fallstricke des Eskapismus zu stolpern!


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