Multiplikatoren, Staatsverschuldung und Selbstfinanzierung

Hans-Werner Sinn bestreitet die Selbstfinanzierung von Staatsverschuldung, begeht jedoch einen Fehler,[1] den ein alternativer Ansatz vermeidet. Wir starten mit Sinns Ansatz.

1 Multiplikator-Herleitungen

1.1 Sinns Ansatz

Es wird das Inlandsprodukt Y durch privaten Konsum C, private Investitionen I, Staatsausgaben G und Exportüberschuss ​(X-M) nachgefragt. Die Verwendungsgleichung lautet:

Y=C+I+G+(X-M)

Der private Konsum ist einerseits autonomer Konsum C_{a}, andererseits mit konstanter Konsumquote c eine lineare Funktion des disponiblen Einkommens Y_{disp} als um Abgaben bereinigtes Inlandsprodukt, wobei ein konstanter Abgabensatz t unterstellt wird:

C=C_a+cY_{disp}=C_a+c(1-t)Y

Dann folgt:

Y=C_a+c(1-t)Y+I+G+(X-M)

Im folgenden Schritt interessieren uns die absoluten Veränderungen:

\Delta Y=\Delta C_a+c(1-t)\Delta Y+\Delta I+\Delta G+\Delta (X-M)

Autonomer Konsum, Privatinvestitionen und Exportüberschuss mögen sich nicht ändern:

C_a=0\wedge \Delta I=0\wedge \Delta (X-M)=0\Rightarrow

\Delta Y=c(1-t)\Delta Y+\Delta G

Wir stellen um:

\Delta Y-c(1-t)\Delta Y=\Delta G

Es folgt:

\Delta Y[1-c(1-t)]=\Delta G

Dann ergibt sich als Ausgabenmultiplikator m:

m=\frac{\Delta Y}{\Delta G}=\frac{1}{1-c(1-t)}

1.2 Alternativer Ansatz

Auch hier wird das Inlandsprodukt Y durch privaten Konsum C, private Investitionen I, Staatsausgaben G und Exportüberschuss (X-M) nachgefragt. Die Verwendungsgleichung lautet:

Y=C+I+G+(X-M)

Der private Konsum ist wieder einerseits autonomer Konsum C_{a}, andererseits mit konstanter Konsumquote c eine lineare Funktion des disponiblen Einkommens Y_{disp} als um Abgaben bereinigtes Inlandsprodukt, wobei ein konstanter Abgabensatz t unterstellt wird. Wir unterscheiden jedoch zwischen Staatsausgaben G_{T}, die durch Steuern, und Staatsausgaben G_{V}, die durch Staatsverschuldung finanziert werden.[2] Die steuerfinanzierten Staatsausgaben ergeben sich als Produkt von Abgabensatz t und Inlandsprodukt Y:

C=C_a+cY_{disp}=C_a+c(1-t)Y\wedge G=G_T+G_V=tY+G_V

Dann folgt:

Y=C_a+c(1-t)Y+I+tY+G_V+(X-M)

Im folgenden Schritt interessieren uns wieder die absoluten Veränderungen:

\Delta Y=\Delta C_a+c(1-t)\Delta Y+\Delta I+t\Delta Y+\Delta G_V+\Delta (X-M)

Autonomer Konsum, Privatinvestitionen und Exportüberschuss mögen sich nicht ändern:

C_a=0\wedge \Delta I=0\wedge \Delta (X-M)=0\Rightarrow

\Delta Y=c(1-t)\Delta Y+t\Delta Y+\Delta G_V

Wir stellen um:

\Delta Y-c(1-t)\Delta Y-t\Delta Y=\Delta G_V

Es folgt:

\Delta Y[1-c(1-t)-t]=\Delta G_V

Wir fassen zusammen:

\Delta Y[1-c+ct-t]=\Delta G_V

Es folgt weiter:

\Delta Y(1-c)(1-t)=\Delta G_V

Dann ergibt sich als Ausgabenmultiplikator m:

m=\frac{\Delta Y}{\Delta G_V}=\frac{1}{(1-c)(1-t)}

2 Folgen für mögliche Staatsverschuldung

2.1 Sinns Ansatz

Gehen wir nun davon aus, dass zusätzliche Staatsausgaben durch zusätzliche Staatsverschuldung finanziert werden. Sinn räumt ein, dass durch das hierdurch induzierte zusätzliche Inlandsprodukt \Delta Y zusätzliche Steuern \Delta T bewirkt werden, aber er betont, dass die zusätzlichen Staatsausgaben \Delta G größer seien als die zusätzlichen Steuern \Delta T:

\Delta T<\Delta G

Die zusätzlichen Steuern ergeben sich wie folgt:

\Delta T=t\Delta Y

Bei Sinn gilt wie gezeigt folgender Ausgabenmultiplikator:

m=\frac{\Delta Y}{\Delta G}=\frac{1}{1-c(1-t)}

Dann gilt:

\Delta Y=\frac{1}{1-c(1-t)}\Delta G

Dies setzen wir in die Gleichung der zusätzlichen Steuern ein:

\Delta T=t\frac{1}{1-c(1-t)}\Delta G

Und weiter:

\Delta T=\frac{t}{1-c(1-t)}\Delta G

Zu prüfen ist also, wann Sinns Behauptung gilt:

\Delta T<\Delta G

Dies ist der Fall, wenn gilt:

t<1-c(1-t)

Wir lösen auf:

t<1-c+ct

Und weiter:

t-ct<1-c

Und weiter:

t(1-c)<1-c

Und schließlich wegen 1-c>0:

t<1

Da der Steuersatz t aber in der Tat immer kleiner 1 ist, gilt immer:

\Delta T<\Delta G

Sinn schlussfolgert also zurecht, dass „die zusätzlichen Steuereinnahmen stets kleiner als die Erhöhung der Staatsausgabe“ seien. Er schlussfolgert aber nur zurecht auf Grundlage seines Multiplikators. Dieser Multiplikator ist jedoch falsch. Nimmt man den abweichenden, richtigen Multiplikator, ergibt sich ein anderes Ergebnis.

2.2 Alternativer Ansatz

Gehen wir wieder davon aus, dass zusätzliche Staatsausgaben durch zusätzliche Staatsverschuldung finanziert werden. Klar ist auch hier, dass durch das hierdurch induzierte zusätzliche Inlandsprodukt \Delta Y zusätzliche Steuern \Delta T entstehen, aber die zusätzlichen Staatsausgaben \Delta G_V können nun auch kleiner als die zusätzlichen Steuern \Delta T sein:

\Delta T>\Delta G_V

Die zusätzlichen Steuern ergeben sich wie folgt:

\Delta T=t\Delta Y

Beim alternativen Ansatz gilt wie gezeigt folgender Ausgabenmultiplikator:

m=\frac{\Delta Y}{\Delta G_V}=\frac{1}{(1-c)(1-t)}

Dann gilt:

\Delta Y=\frac{1}{(1-c)(1-t)}\Delta G_V

Dies setzen wir in die Gleichung der zusätzlichen Steuern ein:

\Delta T=t\frac{1}{(1-c)(1-t)}\Delta G_V

Und weiter:

\Delta T=\frac{t}{(1-c)(1-t)}\Delta G_V

Zu prüfen ist also, wann beim alternativen Ansatz die gegenteilige Behauptung zur Sinnschen These gilt, also:

\Delta T>\Delta G_V

Dies ist der Fall, wenn gilt:

t>(1-c)(1-t)

Wir lösen auf:

t>1-c-t+ct

Und weiter:

2t-ct>1-c

Und weiter:

t(2-c)>1-c

Und schließlich wegen 2-c>0:

t>\frac{1-c}{2-c}

Wir haben diesmal keine eindeutige Lösung, sondern eine Fallunterscheidung. Sofern der Steuersatz t größer als \frac{1-c}{2-c} ist, steigen die Steuern stärker als die schuldenfinanzierten Staatsausgaben, andernfalls steigen die Steuern schwächer als die Staatsausgaben.

3 Fazit

Der Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt darin, dass Sinn fälschlicherweise in der Verwendungsgleichung mathematisch unterschlägt, dass durch die schuldenfinanzierten Staatsausgaben nicht nur das Inlandsprodukt steigt, sondern auch die Steuern. Schauen wir uns dafür nochmals Sinns und den alternativen Ansatz an.

Bei Sinn gilt:

\Delta Y=c(1-t)\Delta Y+\Delta G

Beim alternativen Ansatz gilt:

\Delta Y=c(1-t)\Delta Y+t\Delta Y+\Delta G_V

Der alternative Ansatz ist richtig. Nicht nur die ursprünglichen, durch Staatsverschuldung finanzierten Staatsausgaben realisieren und erhöhen multiplikativ das Inlandsprodukt, sondern auch jene, die nach der bereits erfolgten Steigerung des Inlandsprodukts durch die zusätzlichen Steuern gedeckt werden. Freilich gilt, dass die zusätzlichen Steuern auch tatsächlich für zusätzliche Staatsausgaben zu verwenden sind und nicht zur Schuldentilgung.

4 Beispielrechnung mit dem richtigen Ansatz

4.1 Ohne Staatsverschuldung

Unterstellen wir anders als üblich einen einkommensunabhängigen, autonomen Import:

Y=C_a+c(1-t)Y+I+tY+G_V+(X-M)

Wir formen um:

Y-c(1-t)Y-tY=C_a+I+G_V+(X-M)

Und weiter:

Y(1-c+ct-t)=C_a+I+G_V+(X-M)

Es folgt:

Y=\frac{C_a+I+G_V+(X-M)}{1-c+ct-t}

Und weiter:

Y=\frac{C_a+I+G_V+(X-M)}{(1-c)(1-t)}

Wir treffen zunächst ohne Staatsverschuldung folgende Annahmen:

C_a=5,00

I=195,00

G_V=0,00

(X-M)=0,00

c=80%

t=30%

Dann gilt:

Y=\frac{C_a+I+G_V+(X-M)}{(1-c)(1-t)}=\frac{5,00+195,00+0,00+0,00}{(1-0,80)(1-0,30)}=\frac{200,00}{0,14}

Hieraus folgt für das konvergente Endergebnis des multiplikativen Anpassungsprozesses:

Y=1.428,57

Y_{disp}=(1-0,30)\cdot 1.428,57=1.000,00

T=0,30\cdot 1.428,57=428,57

C_a=5,00

cY_{disp}=0,80\cdot 1.000,00=800,00

I=195,00

G_T=428,57

G_V=0,00

(X-M)=0,00

Der multiplikative Anpassungsprozess ist ohne Staatsverschuldung tabellarisch wie folgt:

4.2 Mit Staatsverschuldung

Es gilt wieder:

Y=\frac{C_a+I+G_V+(X-M)}{(1-c)(1-t)}

Wir treffen nun mit Staatsverschuldung folgende Annahmen:

C_a=5,00

I=195,00

G_V=10,00

(X-M)=0,00

c=80%

t=30%

Dann gilt:

Y=\frac{C_a+I+G_V+(X-M)}{(1-c)(1-t)}=\frac{5,00+195,00+10,00+0,00}{(1-0,80)(1-0,30)}=\frac{210,00}{0,14}

Hieraus folgt für das konvergente Endergebnis des multiplikativen Anpassungsprozesses:

Y=1.500,00

Y_{disp}=(1-0,30)\cdot 1.500,00=1.050,00

T=0,30\cdot 1.500,00=450,00

C_a=5,00

cY_{disp}=0,80\cdot 1.050,00=840,00

I=190,00

G_T=450,00

G_V=10,00

(X-M)=0,00

Wir sehen, dass die Staatsausgaben qua Staatsverschuldung um 10,00 erhöht wurden, während die Steuern um 450,00-428,57=21,43 gestiegen sind. Dies war möglich, weil:

t>\frac{1-c}{2-c}\Leftrightarrow 0,30>\frac{1-0,80}{2-0,80}\Leftrightarrow 0,30>0,1\bar{6}

Unter dieser gegebenen Bedingung hat Staatsverschuldung also tatsächlich einen Selbstfinanzierungseffekt.

Der multiplikative Anpassungsprozess ist mit Staatsverschuldung tabellarisch wie folgt:

[1] Sinn, Hans-Werner: Eine Anmerkung zur Selbstfinanzierungsthese und zum keynesianischen Modell, in: ifo-Schnelldienst, 67. Jg., Heft 23/2014, S. 3-4.

[2] Sehr viele Anregungen entstammen Helmedag, Fritz: Schulden dulden, Kredit genießen: Zur Beständigkeit und Bedeutung von Budgetdefiziten, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg., Heft 5/2015, S. 347-349. Die Rechenwege gehen jedoch auf meine eigene Kappe.

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