Gregor Gysi hat eine Rede zum Thema „Israel und die mögliche Annexion von Teilen der Westbank“ gehalten, die ich problematisch finde. Stellung dazu nehme ich, weil ich die Argumentationslinien von Gysi falsch finde und weil mich obendrein etliche Begeisterung zum Ausdruck bringende Facebook-Kommentare zu Gysis Rede à la: „Endlich! Aus berufenem Munde!“ nerven.
Gysi blendet das historische Geschehen aus
Gysi nimmt in seiner Rede Bezug auf den UN-Teilungsbeschluss vom 29.11.1947 zum damaligen Mandatsgebiet Palästina, der die Entstehung eines unabhängigen arabischen Staates, eines unabhängigen jüdischen Staates sowie eines internationalen Sonderregimes für die Stadt Jerusalem vorsah. Sodann konstatiert Gysi: „Nur hinsichtlich Israels ist dieser Beschluss erfüllt, nicht für Palästina, nicht für Jerusalem, nicht für Bethlehem.“ Aber warum ist das so? Was Gysi leider nicht erwähnt, ist die Geschichte nach 1947.
Am 15.05.1948, nur einen Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung, griff die arabische Seite, die den UN-Teilungsplan nicht akzeptiert hatte, mit militärischen Einheiten aus dem Mandatsgebiet sowie aus Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak das im Entstehen begriffene Israel an, um dessen Existenz zu beenden. Wie wir wissen, gewann Israel diesen Palästinakrieg gegen seine Aggressoren: 1949 kam es unter Vermittlung der UN zu Waffenstillstandsverträgen zwischen Israel und seinen arabischen Kriegsgegnern. Das Ergebnis war eine im Vergleich mit dem UN-Teilungsplan veränderte territoriale Verteilung, der zufolge Israels Staatsgebiet ausgedehnt wurde und sich nun auf etwa ¾ der Fläche des Mandatsgebiets Palästina erstreckte. Es sind übrigens diese Staatsgrenzen seit 1949, die man meint, wenn man von den Grenzen von 1967 spricht.
Im Fortgang der Geschichte sah sich Israel weiteren arabischen Aggressionen ausgesetzt. Im Juni 1967 kam Israel im Sechstagekrieg einer auf die Beendigung seiner Existenz abzielenden kriegerischen Aggression Ägyptens, Jordaniens und Syriens erfolgreich zuvor. Der Sechstagekrieg endete mit dem Ergebnis durch Israel kontrollierter Gebiete in Gaza, auf dem Sinai, auf dem Golan, in der Westbank und in Ostjerusalem. Als Folge des israelisch-ägyptischen Friedensvertrages 1979 wurde der Sinai Ägypten zurückgegeben – die anderen Gebiete werden bis heute von Israel mitverwaltet oder aber sind Gegenstand von Kontroversen.
1973 wurde Israel im Jom-Kippur-Krieg erneut von Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten angegriffen. Der Krieg führte auf beiden Seiten zu großen Verlusten – einen eindeutigen Kriegsgewinner gab es nicht. Bis heute sah sich Israel weiteren Aggressionen ausgesetzt: 1991 durch den Irak, 2006 durch die libanesische Hisbollah, 2008, 2012 und 2014 durch die Hamas in Gaza. Nach wie vor wird Israel von Teilen der arabischen Welt nicht offiziell anerkannt. Der (nicht-arabische) Iran verkündet die Beendigung des Staates Israel als Staatsziel. Milizen wie die Hamas in der Linie der Muslimbrüderschaft oder die vom Iran unterstützte schiitische Hisbollah verfolgen das Ziel der Auslöschung Israels.
Fairerweise möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass auch Israel seine Schattenseiten hatte. 1956 spielte es in der Suezkrise eine unrühmliche Rolle gegen Ägypten. 1982 trat es im Libanonkrieg als einer unter mehreren Aggressoren auf. Israels Politik in den von ihm verwalteten Zonen hat zuweilen eskalierend gewirkt. Doch das ändert nichts an der Feststellung, dass Israel in der Vergangenheit bedroht war und noch heute ist und dass es sich häufig Aggressionen ausgesetzt sah, auf die es reagieren musste, und keineswegs regelmäßig Aggressionen von sich aus begonnen hat.
Leider findet all das bei Gysis Rede keine Erwähnung. Dadurch entsteht aber der Eindruck, dass es noch keinen Staat Palästina gebe, weil Israel dies aus reinem Trotz heraus verhindere. Dem ist aber nicht so. Es liegt auch und in beträchtlichem Ausmaß an der Aggression und der fehlenden Bereitschaft der arabisch-palästinensischen Seite, Israels Existenz anzuerkennen und Frieden mit Israel zu schließen, dass ein Friedensvertrag noch nicht zustande gekommen ist und die Zweistaatenlösung bislang ausbleibt.
Dies zeigt sich auch daran, dass zwar die Rückgabe des Sinai durch Israel an Ägypten von 1979 bis 1982 Frieden zwischen diesen beiden Ländern schuf, dass aber der Rückzug Israels aus dem Libanon im Jahre 2000 sowie aus Gaza und aus nördlichen Regionen der Westbank im Jahre 2005 keineswegs Frieden zu schaffen vermochte. Die Hisbollah im Libanon und die Hamas in Gaza drängen mit Terror auf die Beseitigung Israels, und die Fatah in der Westbank verweigert sich einer Friedenslösung, die auf das Rückkehrrecht aller arabischen Flüchtlinge von 1948/49 und ihrer Nachkommen nach Israel verzichtet.
Gysi knüpft die Existenz Israels an jene des zu gründenden Staates Palästina
Man kann sich für die Gründung eines arabischen Staates Palästina aussprechen – ich spreche mich selber dafür aus. Man kann auch die Politik des Staates Israel kritischer sehen als ich, der ich Israel wohlgesonnen bin. Was man aber nicht tun sollte, ist, Israels Existenzrecht an das Existenzrecht Palästinas zu binden. Genau das hat aber Gysi getan, als er sprach: „Doch das Existenzrecht Israels ist in seiner völkerrechtlichen Geburtsurkunde an das Existenzrecht Palästinas gebunden.“ Womöglich und hoffentlich hat Gysi bei seiner Erwähnung einer Bindung keine Junktimierung vor Augen gehabt. Aber es kann der Eindruck einer Junktimierung entstehen, und das ist problematisch.
Denn Israel hat ein Recht zu existieren. Juden haben in der Nahostregion schon immer gelebt. Die zionistischen Bestrebungen auf eine israelische Staatsgründung waren bereits zur Zeit der Wende zum 19. Jahrhundert berechtigt. Ein zionistischer Staat hätte sich in der damaligen Epoche einerseits in die Gründung anderer Staaten eingereiht. Andererseits gab es auch zu dieser Zeit schon eine jahrhundertealte jüdische Erfahrung mit Antisemitismus, die Juden zur zionistischen Gründung eines jüdischen Staates motiviert hatte. Dennoch kam es erst 1949 zur Gründung des Staates Israel. Der exterminatorische Antisemitismus der Nationalsozialisten verdeutlichte die zionistische Notwendigkeit eines jüdischen Staates.
Ich bin daher erstens nicht der Ansicht, dass die Welt eine Berechtigung hat, Israel mitzuteilen, unter welchen Bedingungen es ein Recht auf Existenz habe. Dies gilt auch für die Politiker in der Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Dritten Reichs der Nazis. Die Delegitimierung Israels ist ein absolutes No Go, und auch eine Junktimierung ist grundfalsch. Vielmehr sollten wir anerkennen, dass sich Israel zurecht von keinem Land der Welt seine Selbstverteidigung untersagen und auch von niemandem vorschreiben lässt, was es tun müsse, um existieren zu dürfen.
Zweitens bin ich der Ansicht, dass die Welt weder Berechtigung noch Anlass hat, Israel kritischer zu betrachten als andere Staaten. Weder doppelte Standards noch Dämonisierungen sind bei der Betrachtung Israels angemessen. Israel ist die einzige funktionierende Demokratie im Nahes Osten mit humanitären und sozialen Grundrechten, es hat ökonomische Erfolge vorzuweisen, und es ist die Heimstaat weltweit von Verfolgung bedrohter Juden. Das bedeutet nicht, dass Kritik an Israel ein Tabu wäre – ein lächerlicher Vorwurf, denn kaum ein Land wird öfters kritisiert als Israel. Aber es gemahnt dazu, bei Kritik an Israel das richtige Maß zu wahren, es nicht mit anderen Standards als bei anderen Ländern zu beurteilen und es nicht zu dämonisieren.
Gysis unterschätzt das antisemitische Problem
Problematisch finde ich folgende Passage in der Rede Gysis: „Es ist auch für viele Jüdinnen und Juden mehr als beschämend, wenn gerade Israel mit Völkerrechtsbruch, mit Besatzung, mit Demütigung der Palästinenserinnen und Palästinenser in Verbindung gebracht werden muss. Der Ruf von Israel wird bei Realisierung der Annexionspläne weltweit noch deutlich negativer. Das trifft ebenfalls weltweit alle Jüdinnen und Juden. Weder sie noch Israel werden dadurch sicherer – im Gegenteil.“
Das erste Problem resultiert daraus, dass Gysi unterstellt, Juden müssten sich für Israels Politik schämen. Es stehen aber die meisten Juden m.E. aus guten Gründen trotz Kritik im Einzelnen solidarisch zum Staate Israel als potentieller Heimstatt. Überdies sind die Gruppe der Juden und die israelische Bevölkerung nicht identisch. Juden außerhalb Israels sind daher auch nicht verantwortlich für das Geschehen in Israel und müssten sich dafür auch dann nicht schämen, wenn sie daran Kritik üben würden.
Das zweite Problem besteht darin, dass Gysi ein Zerrbild zeichnet, wonach die Israelis die Demütiger und die Palästinenser die Gedemütigten seien. Ich will nicht blind gegenüber Vergehen auf israelischer Seite sein: Menschenrechtsverletzungen gegenüber Palästinensern gab und gibt es in Israel. Aber es gibt eben auch fortgesetzte Anfeindungen und Attacken der palästinensischen Seite und ihrer Verbündeten, die Gysi gänzlich ignoriert.
Das dritte Problem ergibt sich daraus, dass Gysi insinuiert, Israel sei mit seiner Politik für seinen negativen Ruf und dafür verantwortlich, dass der Staat Israel bedroht werde und Juden weltweit in Gefahr seien. Dies ist aber eine unzulässige Verkennung des Umstandes, dass Israels Ruf vor allem darunter leidet, dass es als „Jude unter den Staaten“ Antisemitismus ausgesetzt ist. Es ist eine Ausblendung des Sachverhalts, dass Israel in erster Linie von Angriffen, Delegitimierungen und Vernichtungsprogrammen bedroht war und ist – man denke an die Hamas, die Hisbollah und an den Iran. Schließlich ist es eine Blindheit gegenüber dem Drama, dass Juden sich nach wie vor weltweit vor antisemitischen Angriffen und Anschlägen fürchten müssen, die Antisemiten ohnehin begehen, weil sie Antisemiten sind, und nicht deswegen, weil sie vermeintlich auf israelische Politik reagieren.
Und die Annexionsfrage?
In der Folge des Sechstagekrieges verwaltet Israel seit 1967 in der Westbank Gebiete unter seiner Kontrolle, die sogenannten Territories. Die Frage, ob es sich um bei den Territories um besetzte Gebiete handelt, ist rechtlich umstritten, aber ich möchte politisch bekennen, dass ich den palästinensischen Anspruch auf eine eigene staatliche Verwaltung dieser Gebiete richtig finde – sofern Israels Existenz und Sicherheit friedlich seitens der arabischen Seite anerkannt werden.
Die Territories werden in drei Zonen unterteilt. Gemäß dem Oslo-Abkommen wird die A-Zone sowohl in Zivil- als auch in Sicherheitsbelangen durch die palästinensische Autonomiebehörde verwaltet; die B-Zone wird in zivilen Belangen durch die palästinensische Autonomiebehörde verwaltet, während das israelische Militär und die palästinensische Autonomiebehörde die Sicherheitsverwaltung gemeinsam verantworten. Die C-Zone hingegen wird in Zivil- und in Sicherheitsbelangen durch das israelische Militär verwaltet. Bei den Annexionsplänen geht es „nur“ um die C-Zone, in der die palästinensische Autonomiebehörde auch bislang schon nicht verwaltend tätig ist.
Die Annexion würde dazu führen, dass nicht mehr das israelische Militär, sondern die israelische Politik für die Verwaltung zuständig wäre. Für die Palästinenser würde sich in der Praxis nichts verändern. Doch es geht bei Politik nicht nur um den Status quo, sondern auch um Perspektiven. Einerseits diente eine annektierte C-Zone israelischen realpolitischen Interessen. Der nun durch die Regierung direkter kontrollierte Sicherheitspuffer in Richtung Iran würde größer. Die israelische Regierung könnte politische Zugeständnisse gegenüber ihren Wählern machen, die in der C-Zone siedeln und wohnen möchten, und dort Wohnungsprogramme umsetzen. Schließlich hätte die israelische Regierung mehr Verhandlungsmasse in ihren Unterredungen mit der arabisch-palästinensischen Seite.
Andererseits würden die Spannungen steigen. Zurecht würden die Palästinenser und Teile der Weltöffentlichkeit kritisieren, dass sich zwar nicht viel am Status quo ändern würde, dass sich aber die rechtlich kodifizierten Flächenverteilungsverhältnisse zwischen Israelis und Palästinensern zu Ungunsten der palästinensischen Seite verschlechtern würden. Überdies wäre das israelische Vorgehen in der Tat ein Verstoß gegen das Oslo-Abkommen. Dass in der C-Zone schon immer Juden gelebt haben, ändert daran nichts. Kurzum: Wenn wenigstens die Flächenverteilungsverhältnisse seit 1949 Maßstab für einen gerechten Frieden sein sollen, ist eine israelische Annexion der C-Zone ohne akzeptablen Flächenaustausch in anderen Bereichen abzulehnen. Daher bin ich auch gegen die umstandslose Annexion der C-Zone. Wohl könnte ich mir Arrondierungen und Flächentäusche bei konstanten Flächenverhältnissen vorstellen, etwa eine israelische Annexion eines Teils der C-Zone gegen die Übergabe fruchtbarer israelischer Flächen an die palästinensische Seite. Indes gibt es aktuell keine solchen Kompensationsvorschläge, weswegen die geplante Annexion einem Frieden für mein Befinden abträglich wäre.
Mich ärgert die gegen Israel gerichtete Haltung in großen Teilen der Öffentlichkeit, die die erforderlichen realpolitischen Containment-Komponenten der israelischen Politik ausblendet und verkennt, dass Israel bedroht wird und sich verteidigen können muss. Indes bleibe ich dabei, dass eine Zweistaatenlösung bei konstanten Flächenverhältnissen wie 1949 das Ziel sein sollte. Daher fände ich es nach wie vor richtig, wenn Israel der palästinensischen Seite umsetzbare Angebote für Flächenübergaben überhaupt unterbreiten könnte – sofern die palästinensische Seite Frieden für Israel garantiert. Daher finde ich die Annexionspläne der Regierung Netanjahu falsch. Gysis Rede war jedoch keine hilfreiche Intervention für eine gerechte Lösung im Nahen Osten.
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