Nachfolgender Text wurde von Alexander Recht im Jahre 2005 als Reaktion auf die von Franz Müntefering angestoßene Heuschreckendebatte verfasst. Er wurde den Jusos Köln zur Antragsbefassung vorgelegt und beschlossen. Hieraus erklärt sich der Stil des letzten Absatzes.
Kapitalismus und soziale Verwerfungen
Wir begrüßen, dass der SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering die Debatte über den Kapitalismus angestoßen hat. Denn so wird die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Faktum gelenkt, das an sich banal ist, aber im Zuge mystifizierender Schönschreibungen des Kapitalismus immer wieder unterschlagen wird: Der Kapitalismus ist für sich genommen ein System, das Krisen und soziale Verwerfungen produziert.
Zwar ist der Kapitalismus ein System, dessen Produktivkraftentwicklung bereits heute die Möglichkeit liefert, die Produktion in wesentlichen Bereichen gesellschaftlich rational und demokratisch zu regeln, das Verteilungsproblem zu lösen und die Armut in der Welt zu überwinden. Aber die Bausteine des Kapitalismus – Konkurrenz und Profitmaximierung der Unternehmen – sorgen dafür, dass im kapitalistischen System für sich genommen die Möglichkeit nicht zur Wirklichkeit wird und soziale Probleme sogar systemisch produziert werden. Der Kapitalismus ist daher ein inhumanes System.
Die Menschen müssen daher ihr Ziel nach allseitiger individueller Emanzipation und Solidarität gegen die Logik des kapitalistischen Systems durchsetzen. Demokratische Rechte und sozialstaatliche Leistungen fallen nicht als Geschenk vom Himmel, sondern müssen von der arbeitenden Klasse und ihren Organisationen erst in harten Konflikten erkämpft werden. Der wichtigste Zweck demokratischer Rechte und sozialstaatlicher Leistungen im Kapitalismus besteht darin, den Menschen Freiräume zu ermöglichen, in denen sie wirklich Menschen sein dürfen, ohne vollständig den Verwertungserfordernissen des Kapitals unterworfen zu sein, also darin, die Menschen und ihre Arbeitskraft nicht vollständig der Warenförmigkeit preiszugeben.
Wir Jusos müssen daher die von Müntefering angestoßene Debatte dazu nutzen, über die systemische Grundproblematik des Kapitalismus aufzuklären und öffentlich zu verdeutlichen, dass sozialer Fortschritt auf politische Maßnahmen angewiesen ist, die gegen die Logik des Systems gerichtet sind – seien es reformerische oder weitergehende politische Maßnahmen.
Kapitalismus und systemische Handlungslogik
Eine zentrale analytische Schwäche der von Müntefering vorgelegten Kritik besteht darin, dass die zu Recht kritisierten sozialen Verwerfungen als Ergebnis falscher unternehmerischer Moral oder Ethik fehl gedeutet werden. Denn so wird unterschlagen, dass das Streben jedes privatwirtschaftlichen Unternehmens nach maximalem Profit keine Einstellung ist, die dieses selbstbestimmt annehmen oder ablegen kann. Es ist vielmehr eine Überlebensnotwendigkeit für die Einzelkapitale, diesem den Zwangsgesetzen der Konkurrenz entspringenden Imperativ Folge zu leisten.
Folgerichtig handelt es sich beim Problem der sozialen Verwerfungen eben nicht um ein Problem fehlender Moral oder Werte. Das kapitalistische System erzwingt vielmehr konformes Verhalten unter Androhung des Untergangs des Betriebes: Unternehmen, die sich dem Diktat der Profitmaximierung nicht unterwerfen, erlangen nicht die notwendigen Profite, um die Finanzierung derjenigen modernen Produktionsmittel zu gewährleisten, die Wettbewerbsfähigkeit garantieren. Verlieren sie technologisch den Anschluss, werden sie nicht mehr die vom Markt geforderte Kostensituation aufweisen. Dies führt entweder bei konstantem, zu hohem Preis zu sinkendem Absatz oder aber zu sinkenden Preisen, die sich den Stückkosten nähern oder sie sogar unterschreiten. Beides kann über die geringeren Profite bzw. sogar Verluste durchaus die Existenz solcher ins Hintertreffen geratenen Einzelkapitale in Frage stellen.
Hieraus folgt: Mögen Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen einzelnen Unternehmern und Managern auch am Herzen liegen – im Interesse der Profitmaximierung werden sie letztlich doch dazu gezwungen sein, im Zweifelsfall Entlassungen vorzunehmen. Mögen auch in manchen Fällen kränkelnde Unternehmen ihre Möglichkeiten, Entlassungen durch Reorganisation, effizienzsteigernde Maßnahmen oder dergleichen zu vermeiden, nicht voll ausschöpfen, so dementiert diese Feststellung dennoch nicht das grundsätzliche Problem: Die Profitorientierung ist für das einzelne Unternehmen unumgänglich. Arbeitsplätze werden dabei nur dann und nur solange geschaffen, wie sie diesem Ziel nützen und einen hinreichenden Profit zur Folge haben.
Zwar werden volkswirtschaftliche Werte nur durch die Verausgabung von Arbeit im Produktionsprozess gebildet, aber dies ändert nichts daran, dass die damit verbundenen Löhne betriebswirtschaftlich eine Kostenstelle darstellen, die Unternehmen zu senken trachten. Einer der systemischen Defekte des Kapitalismus besteht eben darin, dass einzelwirtschaftliche und gesellschaftliche Rationalität auseinander klaffen.
Das Beispiel der Deutschen Bank zeigt, dass die Gewinne von heute eben nicht zwangsläufig die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen darstellen. Vielmehr steht in der uns heute vorliegenden gesamtwirtschaftlichen Konstellation die Schaffung von Arbeitsplätzen einzelbetrieblich oftmals der Profitmaximierung im Wege. Denn das notwendigerweise einzelwirtschaftlich ausgerichtete Bestreben der einzelnen Unternehmen besteht darin, den Lohn möglichst gering zu halten. Dass die Unternehmen auf diese Weise gesamtwirtschaftlich durch eine faktische Synchronisation ihres Handelns die inländische Nachfrage abwürgen und damit ihre eigenen Verwertungsbedingungen verschlechtern, ändert am einzelwirtschaftlichen Ziel der Lohnmoderation eben nichts.
Dieser Widerspruch zwischen einzelwirtschaftlicher Rationalität und gesamtwirtschaftlichem Defekt ist Ausdruck der krisenhaften Tendenz einer kapitalistisch verfassten Ökonomie. Das unkoordinierte Marktgeschehen, das den einzelnen Produzenten in Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung belässt, führt in Verbindung mit dem Zwang, im Interesse der Profitmaximierung die Lohnsumme so gering wie möglich zu halten, in regelmäßigen Abständen zu der in Deutschland zu beobachtenden Zwillingskrise aus Überakkumulation und Unterkonsumtion.
Kapitalistische Krisen und ihre sozialen Kosten
Die sozialen Kosten kapitalistischer Krisen sind bekannt: Massenarbeitslosigkeit, sinkender Lebensstandard für breite Schichten, Verunsicherung, Dequalifizierung etc. Das Problem stellt sich wie folgt dar: Der theoretisch unbegrenzten Ausdehnung des Produktion steht eine nur begrenzte effektive Nachfrage gegenüber. Auf der einen Seite ist die Nachfrage zu schwach, auf der anderen Seite kommt es zu überhöhten Produktionskapazitäten, so dass zwar theoretisch mehr produziert, aber eben nicht mehr verwertet, also abgesetzt werden kann. Unternehmen ziehen aber keinen Nutzen daraus, wenn Waren günstig hergestellt, aber nicht verkauft werden können. Worin liegt dieses Realisationsproblem begründet?
Neben den Lohnbestandteilen umfasst der Wert der volkswirtschaftlichen Produktion immer auch Gewinnbestandteile. Der Konsum aus Löhnen alleine reicht daher niemals aus, um alle produzierten Werte nachzufragen. Hinzukommen müssen immer die – weniger bedeutsame – Konsumnachfrage aus Gewinneinkommen und die vor allem wichtigen Investitionen, denen die Rolle zufällt, die Differenz zwischen Lohneinkommen und Wert der Gesamtproduktion zu schließen.
Aufgrund des Strebens nach Gewinnmaximierung wird aber die Lohnquote tendenziell immer gedrückt, wodurch das Nachfrageaggregat des Massenkonsums begrenzt und eine große Lücke zur Produktionskapazität verursacht wird. Verschärft wird dieses Ungleichgewicht noch durch Sättigungstendenzen in einer reifen kapitalistischen Gesellschaft sowie eine hohe volkswirtschaftliche Sparneigung. Die durch die Investitionen zu schließende Lücke wird also umso größer, je stärker die Lohnquote unter Druck gerät sowie Sättigung und Sparneigung an Bedeutung zunehmen.
In einer solchen Situation müssten die Investitionen eigentlich sehr hoch ausfallen, um die Lücke zu schließen. Faktisch jedoch halten sich die Unternehmen mit ihren Investitionen zurück, da sich aufgrund des sinkenden Konsums ihre Verwertungsbedingungen verschlechtern. Wie Unternehmen auf eine solche Situation reagieren, lässt sich jeden Tag in der Zeitung nachlesen: Investitionen finden nur unzureichend statt – und wenn, dann vornehmlich nur in Form von produktivitätssteigernden Rationalisierungsinvestitionen.
Steigt jedoch die Produktivität stärker als die gesamtwirtschaftliche effektive Nachfrage, so kommt es zu einem Rückgang des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvolumens. Dieser Rückgang nimmt im Kapitalismus eine besonders unsoziale Form der Arbeitszeitverkürzung an: Ein beträchtlicher Teil des Erwerbspotentials wird zur Arbeitslosigkeit gezwungen. Durch Arbeitslosigkeit und geringere Löhne sinkt jedoch der Massenkonsum noch weiter, und die Verwertungsbedingungen verschlechtern sich erneut.
Die Reaktion der Unternehmen? Sie drängen noch weiter auf Lohnmoderation. Genau dieser Teufelskreislauf lässt sich seit vielen Jahren in Deutschland beobachten. Trotz bzw. wegen sinkender Abgaben und Steuern, stagnierender Reallöhne und fallender Lohnquote erleben wir seit mehreren Jahren fast Nullwachstum mit stetig steigenden Arbeitslosenzahlen.
Der Kapitalismus in seiner heutigen Gestalt
Kapitalismus baut immer auf Konkurrenz und Profitmaximierung der Unternehmen auf. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Kapitalismus sich nicht ändert. Im Gegenteil ist Kapitalismus ein durchaus flexibles System: Sein historisch spezifisches Akkumulationsregime und seine sozialen und politischen Regulationsformen können sich verändern und tun dies auch. Der aktuelle Kapitalismus ist in der Tat nicht mehr derselbe wie vor 20 Jahren.
Es ist diese Veränderung der Gestalt des Kapitalismus, auf die sich Müntefering in seinen Ausführungen bezieht. Das zentrale Moment der Veränderung verortet er in einer angeblich zunehmenden Macht „bestimmte(r) Finanz-Unternehmen“, deren „international forcierte(.) Profit-Maximierungs-Strategien“ – so Müntefering – „auf Dauer unsere Demokratie gefährden“ würden.
Schon diese Einordnung, wonach gesellschaftliche Probleme einzig und allein durch Finanzunternehmen verursacht würden, ist falsch. Noch kruder wird es jedoch, wenn Müntefering auf Basis seiner Untersuchungen bloße moralische Appelle an die Unternehmen formuliert:
„Es liegt im eigenen Interesse von Unternehmern (…), die sich für ihr Unternehmen, für ihre Arbeitnehmer und für den Standort mitverantwortlich fühlen und entsprechend handeln, diesen Entwicklungen gemeinsam mit uns entgegenzutreten.“
Die ‚guten’ und ‚sozial verantwortungsvollen’ Unternehmen, deren Existenz Müntefering mal eben so unterstellt, sollen es also richten und dafür sorgen, dass trotz des angeblich ‚unbotmäßigen’ Gebarens der ‚bösen’ Finanzunternehmen die Krise gemeistert wird.
Münteferings Analyse weist also gleich mehrere Fehler auf: Erstens weist er die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme der Moral von Unternehmen anstatt den gesellschaftlichen Strukturen zu. Er verkennt also, dass die Subjekte im Kapitalismus strukturell angeleitet handeln und nicht völlig autonom agieren. Zweitens weist Müntefering die Probleme einseitig dem Finanzsektor im Kapitalismus und dessen Akteuren zu und ignoriert so, dass die Krise aus dem kapitalistischen Gesamtzusammenhang von Produktion und Zirkulation resultiert. Drittens blendet Müntefering die aktuelle makroökonomische Situation aus Überakkumulation und Unterkonsumtion in einer sich stärker internationalisierenden Ökonomie aus. Und viertens schweigt sich Müntefering über das Versagen der eigenen angebotspolitischen Politik, die die Krise verschärft hat, aus. Wie aber stellt sich die Situation tatsächlich dar?
Es lassen sich im Kern folgende Krisenursachen anführen: 1) zu geringe Konsumnachfrage aufgrund antagonistischer Verteilungsverhältnisse, zunehmender Sparbedürfnisse sowie steigender Sättigungstendenzen; 2) unzureichende Investitionsnachfrage aufgrund geringen Konsums, hoher Automation sowie ggf. fallender Profi traten bei konstanten Zinsen; 3) hieraus folgend geplante Ersparnisse, die höher sind als die geplanten Realinvestitionen, so dass Produktionseinschränkungen folgen; 4) bedarfswidrige Ausweitungen der Produktionsmöglichkeiten, die zu Überkapazitäten und Produktionseinschränkungen führen; 5) ergänzend konjunkturelle Krisen. Sichtbarer Ausdruck der Krise ist stets, dass die effektive Nachfrage schließlich geringer als das potentielle Angebot ist. Und dieses systemische Grundproblem verortet sich natürlich auch im anarchischen Charakter des Kapitalismus.
Kapitalistischer Gesamtzusammenhang im Hier und Heute
Grundsätzlich gilt immer im Kapitalismus, dass sich die reale und finanzielle Sphäre nicht voneinander trennen lassen, sondern notwendig zueinander gehören. Denn die Existenz des Finanzwesens ermöglicht nicht nur dem Einzelkapital, sondern auch dem gesellschaftlichen Gesamtkapital, mehr als nur die Profite der Vorperiode zu akkumulieren, sofern die sachlichen Voraussetzungen der Akkumulation vorhanden sind. Eine expansive Finanzkapitalvergabe kann daher zu einem erheblichen Akkumulationsschub führen, genauso wie eine restriktive Kreditvergabe den Akkumulationsprozess abwürgen kann. Insofern stellt das Finanzsystem eben keinen faulen Wurm in einem gesunden Apfel dar, sondern erweist sich als eine unverzichtbare strukturelle Steuerungsinstanz der insgesamt krisenhaften kapitalistischen Ökonomie.
Unternehmen streben an, ihr Kapital möglichst in den Sphären zu investieren, in denen die höchsten Profite erwartet werden. Da diese Investitionen teilweise kredit- und aktienfinanziert sind, hängt es auch vom Finanzsystem ab, wie reibungslos diese Kapitalbewegungen vor sich gehen und wie schnell die Akkumulation stattfindet. Die Produktionssphäre ist also auch auf die Existenz der Finanzsphäre angewiesen. Umgekehrt sind Renditen im Finanzsystem darauf angewiesen, dass die Produktion ausreichende Wachstumsraten und Profite organisiert, da sich Zinsansprüche immer aus der Summe aller Profite speisen müssen. Die Finanzsphäre ist daher auch auf rentable Unternehmen der Produktionssphäre angewiesen.
Allerdings bleibt das Verhältnis von Finanzmärkten und industrieller Produktion weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht stets gleich. Vielmehr kann sich dieses Verhältnis auch im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus verändern. So ist es in der Tat richtig, festzustellen, dass sich im letzten Jahrzehnt die Finanzsphäre gegenüber der Realsphäre zeitweise verselbständigt hat, was sich etwa daran verdeutlicht, dass die Börsenkapitalisierung immer wieder temporär den Werten der realen Produktion davongelaufen ist oder die Börsenumsätze stärker gestiegen sind, als es sich allein über Produktion und Handel erklären lässt.
Aber diese Verselbständigung ist eben nicht autonom, sondern auch aus der Krise der kapitalistischen Produktion heraus zu erklären. Gerade weil es in der Realsphäre große Verwertungskrisen infolge von Nachfrageschwäche bei Überkapazitäten gab und gibt, gerade weil akkumulierte Gewinne der Vergangenheit nicht in vollem Umfang reinvestiert worden sind, haben finanzielle Engagements der Unternehmen an Bedeutung zugelegt.
Jedes Unternehmen beantwortet angesichts des ökonomischen Umfelds die Frage, ob real oder aber finanziell investiert werden soll, immer und in jedem Fall mit Blick auf die Erwartung einer bestimmten Rendite. Es macht daher auch keinen Sinn, produzierende Unternehmen als ‚gut’ und auf den Finanzmärkten engagierte Unternehmen als ‚böse’ darzustellen. Jedes Unternehmen tut das, was es tut, da es sich von der Kombination aus erwarteter Rendite und erwartetem Risiko den bestmöglichen Erfolg verspricht. Jedes Unternehmen ist dabei sowohl in die Produktions- als auch in der Finanzsphäre involviert – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß.
Im produktiven Sektor engagierte Einzelkapitale etwa stehen von zwei Seiten unter Druck: Einerseits müssen sie wie beschrieben auf den jeweiligen Produktmärkten bestehen können. Andererseits benötigen sie aber auch Zugang zu den Kredit- und Kapitalmärkten. Die Kreditmärkte bestrafen ein höheres Ausfallrisiko mit höheren Zinsen, und die Aktienmärkte ermöglichen nur dann Zufluss von Kapital, wenn als Ergebnis von Produktion und Absatz eine bestimmte Rendite gewährt wird. Je nach Unternehmens- und Marktform kann sich dabei die Gewichtung der genannten Faktoren unterscheiden.
Auf Kapitalmärkten engagierte Private-Equity-Gesellschaften wiederum sehen sich in ihrem wirtschaftlichen Handeln relativ geringer Konkurrenz gegenüber. Sie sind aber darauf angewiesen, Kapital einzusammeln, was sie aufgrund der benötigten Summen vor allem bei institutionellen Investoren, Banken, Versicherungen und Pensionsfonds tun. Die erwarteten Renditen liegen dabei typischerweise zwischen 20 und 30 Prozent, was auch darin begründet liegt, dass solche Unternehmen hohem Risiko ausgesetzt sind. Erfüllt eine Gesellschaft die Renditevorgaben nicht, wird ihr das Kapital schnell entzogen werden. Und ob diese Renditevorgaben auch in die Tat umgesetzt werden können, hängt eben auch davon ab, inwiefern die produktiv tätigen Unternehmen, an denen die Private-Equity-Gesellschaften beteiligt sind, die Profitmasse erzielen können, die notwendig ist, um eine hohe Geldkapitalverzinsung zu ermöglichen.
Es wäre daher falsch, den ‚spekulativen’ Finanzmärkten eine ‚solide’ kapitalistische Produktion gegenüberzustellen. Denn auch kapitalistische Produktion beinhaltet ein spekulatives Element, und kein Unternehmen kann sich sicher sein, dass es seine Waren absetzt bzw. welchen Preis es für sie erzielt. Die Spekulation an den Finanzmärkten ist offensichtlicher und kurzfristiger, aber keineswegs etwas qualitativ völlig Anderes als kapitalistische Produktion. Beide gehen von notwendigerweise unsicheren Erwartungen aus, und beide versuchen durch den Handel mit ihren jeweiligen Produkten dasselbe: ihren Profit zu maximieren.
Dass dem so ist, ist auch zu berücksichtigen, wenn soziale Verwerfungen gedeutet und eingeordnet werden sollen. Selbstredend gibt es auch Private-Equity-Gesellschaften, die Unternehmen aufkaufen, zerlegen und unter hohen Arbeitsplatzverlusten mit Kursgewinn wieder veräußern. Aber es gibt auch produktive Unternehmen, die Betriebsteile stilllegen und Arbeitsplätze vernichten. Richtig ist, dass es in Wachstumsbranchen produktive Unternehmen gibt, die Erweiterungsinvestitionen tätigen und so Arbeitsplätze schaffen. Aber es gibt eben auch finanzkapitalistische Unternehmen, die Kapital zur Verfügung stellen, damit Erweiterungsinvestitionen überhaupt stattfinden können.
Dass insgesamt Finanzinvestitionen an Bedeutung relativ zulegt haben und reale Investitionen an Bedeutung relativ abgenommen haben, ist Folge eines historisch spezifischen kapitalistischen Gesamtzusammenhangs, der sich durch Überakkumulation und Unterkonsumtion auszeichnet. Das Finanzsystem ist hierbei in seiner Verzahnung mit dem Produktionssystem ein
„Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel“ (Marx).
Die Steuerung der realen Akkumulation durch das Finanzsystem ist ein durch und durch krisenhafter Prozess. Die Kreditvergabe, vor allem aber der Handel mit Wertpapieren und Aktien ‚leben’ nachgerade von Erwartungen und Unsicherheiten. Es muss spekuliert werden, und diese Spekulation kann auch misslingen und zur Vernichtung des eingesetzten Kapitals führen. An der Börse kann es also zu spekulativen Blasen in Gestalt völlig überhöhter Aktienkurse und dem anschließenden Platzen dieser Blasen in Form des plötzlichen Absturzes der Kurse kommen. Dies gilt umso eher, wenn die reale Ökonomie stagniert und mehr und mehr Unternehmen als Ausweg aus dieser Krise spekulativ überhöhte finanzielle Engagements eingehen, die sich zwar für das ein oder andere einzelne Unternehmen rechnen, sich aber gesamtwirtschaftlich nicht rechnen können.
Krisenverschärfung durch falsche Politik
In Zeiten einer stagnativen Ökonomie wäre es notwendig, über politische Maßnahmen die Nachfrage zu stärken, die Löhne anzuheben, die Arbeitzeit zu verkürzen, öffentliche Beschäftigung auszudehnen sowie über internationale Absprachen und Harmonisierungen dafür zu sorgen, dass die Standort- und hieraus folgend die Unterbietungskonkurrenz zwischen Nationalstaaten eingedämmt wird. Auch bedarf es staatlicher Maßnahmen, die aus einem entschieden humanistischen Standpunkt Menschen vor den sozialen Verwerfungen des Kapitalismus schützen und ihnen als souveräne Individuen auch und gerade dann die Inanspruchnahme sozialer Leistungen gewähren, wenn sie von den sozialen Verwerfungen des Kapitalismus negativ betroffen sind.
Im Gegenteil dazu hat die rot-grüne Bundesregierung eine Angebotspolitik betrieben, die auf Lohndruck, Gewinnsteigerung, Rückgang öffentlicher Ausgaben, Sozialabbau, Deregulierung und Liberalisierung beruht und die Zwillingskrise aus Überakkumulation und Unterkonsumtion verschärft hat. Die rot-grüne Bundesregierung hat also mit ihrer Politik die Strukturen in Richtung einer Ökonomisierung der Lebensverhältnisse und einer Ausdehnung von Finanzmarktanlagen anstelle realer Investitionen begünstigt.
Zeit für Taten!
Eine andere Politik tut also not. Ein wichtiger Schritt auf nationaler Ebene ist eine andere Wirtschaftspolitik, die die Erhöhung der Binnennachfrage, die Verkürzung der Arbeitszeit und mehr reguläre öffentliche Beschäftigung zum Ziel hat. Grundlage einer solchen Politik ist eine Umverteilung von oben nach unten durch eine Erhöhung der Brutto- und Nettolohnquote, vor allem in Bezug auf das untere und mittlere Einkommenssegment, eine Anhebung der öffentlichen Transferleistungen, eine spürbare Senkung der Arbeitszeit mit Lohnausgleich, eine Ausdehnung regulär-tarifierter öffentlicher Beschäftigung sowie durch Investitionen in Gesundheit, Bildung, Ökologie und Kultur. Eine solche umverteilende Politik ist unabdingbar für einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine humane Entwicklung der Gesellschaft.
Dazu ist neben der Erhöhung der Bruttolöhne eine Ausdehnung der staatlichen Einnahmen von Nöten. Daher ist das Steuersystem stärker an der Leistungsfähigkeit zu orientieren, indem die BezieherInnen hoher Einkommen und Vermögen sowie die Unternehmen stärker zur Finanzierung staatlicher Aufgaben herangezogen werden. Höhere Löhne und höhere Einkommensteuern sind keineswegs beschäftigungshemmend. Im Gegenteil ist neben der Wiedereinführung der Vermögen- und der Revitalisierung der Erbschaftsteuer die Wiederanhebung des Spitzensteuersatzes und der Körperschaftssteuer ein notwendiger Schritt. Denn die Erhöhung von Löhnen, sozialen Leistungen und öffentlichen Investitionen sorgt über eine höhere Binnennachfrage für eine Ausdehnung von Beschäftigung und Prosperität. Die Vermeidung von Armut erfordert die deutliche Anhebung der Soziahilfe und die Beibehaltung des bisherigen Arbeitslosenhilfesatzes bei gleichzeitiger Abschaffung der Zumutbarkeitskriterien, denn nur so kann der Absturz in Armut verhindert, die Einführung eines Niedriglohnssektors vermieden und die Sicherung eines faktischen Mindestlohns garantiert werden. Der Druck auf die ArbeitnehmerInnen wird so vermindert und ihre Kampfbereitschaft erhöht.
Von eminent wichtiger Bedeutung ist aber auch eine Verringerung der Konkurrenz. Bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und die Verbreitung von Instrumenten zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ziele werden erst durch die Verringerung der Konkurrenz in diesen Bereichen, also durch gleiche Standards in allen Unternehmen, ermöglicht. Instrumente dazu sind etwa Flächentarifverträge oder die Ausbildungsplatzumlage. Die SPD muss die Gewerkschaften durch politische Maßnahmen und medial darin unterstützen, diese Ziele durchzusetzen. Die SPD muss hierfür auch die Auseinandersetzung mit den Verbänden des Kapitals wagen. Denn es ist unverzichtbar, dass es starken Gewerkschaften gelingt, einheitliche und hohe Standards durchzusetzen und hierbei ihre Tarifpolitik wenigstens zu europäisieren sowie die Betriebsverfassungsstruktur europäisch abzustimmen und zu erweitern.
Die Eindämmung der Konkurrenz ist jedoch auch auf europäische politische Standards angewiesen. Die europäischen Steuersysteme müssen koordiniert werden, um Steuerdumping von Unternehmen einzudämmen. Die nationalen Steuersätze für Großunternehmen und Spitzeneinkommen dürfen etwa – bei Beachtung von Entwicklungsunterschieden – bestimmte Werte nicht unterschreiten. Erforderlich ist ebenso ein Verbot steuerschädlichen Wettbewerbs, indem ausländische Dividendenzuflüsse an Unternehmen nicht mehr von der Steuer befreit werden. Die Vermeidung der Steuerverlagerung in niedrig besteuerte Länder ist dabei durch Erfassung sämtlicher Einkünfte unabhängig vom Ort der Entstehung möglich. Und um die europäischen Lebensverhältnisse nach oben anzugleichen und auf ein qualitativ höheres Niveau anzuheben, braucht es auch auf europäischer Ebene wenigstens ein Investitionsprogramm in qualitativen Wachstumsfeldern, auf lange Sicht auch eine Konvergenz der sozialen Sicherungssysteme. Last but not least müsste auf der Ebene der Geldpolitik die EZB endlich eine Politik niedrigerer Zinsen praktizieren, da sie auch und vor allem der Beschäftigungsschaffung statt der einseitigen Fixierung auf Geldwertstabilisierung verpflichtet sein sollte.
Wir Kölner Jusos sagen in aller Klarheit: Wenn Müntefering Hartz IV und die Agenda 2010 abzuschaffen beabsichtigen würde und den Kapitalismus durch politische Regelungen wie etwa die Tobin Tax, höhere Unternehmensteuern, gesetzliche Renten via Umlage statt kapitalgedeckter Renten etc. politisch einhegen wollte, hätte er in uns Jusos entschlossene Mitstreiter und Mitstreiterinnen auf seiner Seite. Lasst uns endlich fortschrittliche Taten sehen!