Nachfolgender Text wurde von Alexander Recht 2010 im Magazin “Prager Frühling” und im Newsletter vom LINKEN MdB Axel Troost publiziert. Der Text sollte aufzeigen, dass der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle mit seiner Behauptung, eine erwerbstätige Kellnerin mit zwei Kindern verdiene weniger, als wenn sie stattdessen Hartz IV beziehen würde, nicht nur im Ton, sondern auch im Inhalt falsch lag. Zudem sollte die unhinterfragte Zustimmung eines Leitmedium wie SPIEGEL online zu dieser Behauptung kritisiert werden.
In SPIEGEL online schreibt Jan Fleischhauer:
„Westerwelles Beispiel der Kellnerin, die mit zwei Kindern 109 Euro weniger verdient, als wenn sie stattdessen Hartz IV beziehen würde, ist ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern Lebenswirklichkeit.“
Das Gegenteil ist der Fall: Westerwelle sagt die Unwahrheit. Denn seine Rechnung stimmt nicht – ob dies eine bewusste Falschrechnung ist oder ob dies aus Ahnungslosigkeit geschieht, wäre woanders zu diskutieren.
Dass Westerwelles Rechnung nicht stimmt, soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden, das aufzeigt, dass entgegen den Behauptungen des FDP-Chefs Erwerbstätige ein höheres verfügbares Einkommen aufweisen als Erwerbslose.
Annahmen
Die Annahmen seien: 28-jährige, alleinerziehende Kellnerin aus Köln mit 2 Kindern zw. 6 und 13 Jahren; skandalöser Bruttolohn im Monat 1.573,00 EUR; GRV-Satz 19,9% (paritätisch), GAV-Satz 2,8% (paritätisch), GPV-Satz 1,95% (paritätisch, da die Frau Kinder hat), GKV-Satz 14,9% (nicht paritätisch, da 0,9% nur vom AN zu zahlen sind, so dass die Kellnerin 7,9% zu zahlen hat); aktueller ESt-Tarif bei Steuerklasse 2; aktuelles Kindergeld; aktueller Wohngeldtarif bei einer Wohnung von 60 qm für 600 EUR zzgl. 100 EUR Heiz- und Warmwasserkosten.
Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung
So hoch wäre das verfügbare Einkommen der Kellnerin im Monat, wenn sie kein ALG II aufstockend beantragen würde.
Bruttogehalt |
1.573,00 |
|
– | GRV |
156,51 |
– | GAV |
22,02 |
– | GPV |
15,33 |
– | GKV |
124,26 |
– | LSt |
96,33 |
– | SolZ |
0,00 |
– | KiSt |
0,00 |
= | Nettogehalt |
1.158,55 |
+ | Kindergeld 1 |
184,00 |
+ | Kindergeld 2 |
184,00 |
+ | Wohngeld |
37,33 |
= | Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung |
1.563,88 |
Verfügbares Einkommen einer Erwerbslosen mit 2 Kindern zwischen 6 und 13 Jahren
Nachfolgend wird das verfügbare verfügbare Einkommen im Monat ermittelt, das eine Erwerbslose mit 2 Kindern zwischen 6 und 13 Jahren bezieht.
Regelsatz Erwachsene |
359,00 |
|
+ | Regelsatz Kind 1 |
251,30 |
+ | Regelsatz Kind 2 |
251,30 |
+ | Mehrbedarf für Alleinerziehende |
129,24 |
+ | Anrechenbare KdU kalt |
600,00 |
+ | Anrechenbare Heiz-/Warmwasserkosten |
82,00 |
= | ALG II einer Erwerbslosen |
1.672,84 |
Falscher Vergleich ohne Aufstockung
Nachfolgend wird so wie bei Guido Westerwelle geschehen ein falscher Vergleich durchgeführt, nämlich der zwischen dem ALG-II-Anspruch einer Erwerbslosen und dem verfügbaren Einkommen, das die Kellnerin ohne Aufstockung bezöge.
ALG II einer Erwerbslosen |
1.672,84 |
|
– | Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung |
1.563,88 |
= | Differenz |
108,96 |
Die Reaktion von Westerwelle und SPIEGEL online
Was sagen Westerwelle und SPIEGEL online hierauf in diffamierender Art und Weise? Dies sei ein Unding, denn die Erwerbslose erhalte ja 109 EUR mehr als die Kellnerin. Hierauf ist Dreierlei zu sagen:
Erstens ist es ein Unding, dass man mit Vollzeit so wenig verdienen kann. Zweitens werden höhere Regelsätze, wie sie DIE LINKE fordert, den Druck für höhere Bruttolöhne erhöhen, niedrigere Regelsätze (und auch höhere Hinzuverdienstmöglichkeiten) hingegen den Druck für geringere Bruttolöhne; drittens ist die Rechnung falsch, denn zu berechnen ist, dass die Kellnerin aufstockend ALG II beziehen kann.
Anrechenbares Einkommen der Kellnerin für Aufstockung
Um sogleich einen richtigen Vergleich durchführen zu können, muss das verfügbare Einkommen ermittelt werden, das die Kellnerin mit Aufstockung bezöge. Hierfür ist zunächst das anrechenbare Einkommen der Kellnerin für ALG-II-Bezug zu errechnen.
Bruttogehalt |
1.573,00 |
|
– | absetzbare Sozialversich. |
318,12 |
– | absetzbare Steuern |
96,33 |
– | Kinderversicherungspauschale |
30,00 |
– | Freibetrag bei Erwerbstätigen |
310,00 |
+ | Kindergeld 1 |
184,00 |
+ | Kindergeld 2 |
184,00 |
= | Anrechenbares Einkommen |
1.186,55 |
Das anrechenbare Einkommen weicht vom verfügbaren Einkommen ohne Aufstockung ab. Die Differenz von 1.563,88 EUR – 1.186,55 EUR = 377,33 EUR erklärt sich daraus, dass bei aufstockendem ALG-II-Bezug das Wohngeld von 37,33 EUR nicht gezahlt wird sowie der Hinzuverdienstfreibetrag von 310,00 EUR und die Kinderversicherungspauschale von 30,00 EUR abgesetzt werden: [37,33 + 310,00 + 30,00] EUR = 377,33 EUR.
Der Freibetrag beträgt 310 EUR, da 100,00 EUR pauschal an Hinzuverdienst gewährt werden, zudem 20% vom darüber hinausgehenden Einkommen bis 800,00 EUR sowie 10% vom darüber noch hinausgehenden Einkommen bis 1.500,00 EUR bei Alleinerziehenden: 100,00 EUR + 700,00 EUR · 20% + 700,00 EUR · 10% = 310,00 EUR.
Aufstockendes ALG II
Was folgt daraus? Die Kellnerin erhält aufstockend auf ihr anrechenbares Einkommen die Differenz bis zum ALG-II-Betrag der erwerbslosen Frau mit 2 Kindern, also:
ALG II einer Erwerbslosen |
1.672,84 |
|
– | Anrechenbares Einkommen |
1.186,55 |
= | Aufstockbetrag |
486,29 |
Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung
So hoch wäre folglich das Gehalt der Kellnerin im Monat, wenn sie ALG II aufstockend beantragen würde (und dafür auf das Wohngeld verzichten würde).
Bruttogehalt |
1.573,00 |
|
– | GRV |
156,51 |
– | GAV |
22,02 |
– | GPV |
15,33 |
– | GKV |
124,26 |
– | LSt |
96,33 |
– | SolZ |
0,00 |
– | KiSt |
0,00 |
= | Nettogehalt |
1.158,55 |
+ | Kindergeld 1 |
184,00 |
+ | Kindergeld 2 |
184,00 |
+ | Aufstockbetrag |
486,29 |
= | Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung |
2.012,84 |
Statt ohne Aufstockung 1.563,88 EUR zu erhalten, erhält die Kellnerin mit Aufstockung 2.012,84 EUR. Die Differenz zwischen verfügbarem Einkommen mit und ohne Aufstockung ist 2.012,84 EUR – 1.563,88 EUR = 448,96 EUR. Dies entspricht dem ums Wohngeld reduzierten Aufstockbetrag. Also sollte aufstockendes ALG II beantragt werden.
Richtiger Vergleich mit Aufstockung und Fazit
Nun kann ein richtiger Vergleich durchgeführt werden, nämlich zwischen dem ALG-II-Anspruch einer Erwerbslosen und dem verfügbaren Einkommen, das die Kellnerin mit Aufstockung bezöge.
Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung | 2.012,84 | |
– | ALG II einer Erwerbslosen | 1.672,84 |
= | Differenz | 340,00 |
Die Differenz von 340,00 EUR ergibt sich aus der Summe von Hinzuverdienst und Kinderversicherungspauschale. Wer erwerbstätig ist, erhält also im Vergleich zu einer erwerbslosen Person der soziologisch gleichen Kategorie – hier Alleinerziehungsstatus und 2 Kinder – immer mehr statt weniger Geld. Denn der Hinzuverdienstfreibetrag (ggf. zzgl. Kinderversicherungspauschale) kommt stets hinzu.
Fazit: Westerwelle und SPIEGEL online sagen die Unwahrheit.