I had a dream
Neulich hatte ich einen Traum: Ihr werdet es mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe doch tatsächlich vom NRW-Schulgesetz und von der NRW-Landesverfassung geträumt, die ich zu befolgen als Landesbeamter einst schwören musste. Ne, ist das nicht schön!? Die Buchstaben und Worte reihten sich mir vor meinem schlafenden Auge formvollendet aneinander, und eine innere Stimme las mir einem Hörbuch gleich sogar die schönsten Sätze vor:
„(…) Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit (…).”
“Schülerinnen und Schüler werden befähigt, verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen (…). Die Schülerinnen und Schüler sollen insbesondere lernen, (…) die eigene Meinung zu vertreten und die Meinung anderer zu achten, in (…) weltanschaulichen Fragen persönliche Entscheidungen zu treffen (…).“
Und dann wurde ich wach und habe wie einst die Schüler der Kayjass Nummer Null „hin un her üvverlaat“ un för mich selvs jesaat: Was für Schüler gilt, müsste auch für Lehrer und für andere Erwachsene gelten. Schön wäre es, wenn diese sich nicht nur biedermeierisch um die Wahrung trauter Zweisamkeit und die Abzahlung der Darlehen zur Finanzierung ihrer Eigenheime kümmerten, sondern auch soziales Handeln praktizierten, im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit agierten und verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen Leben teilnähmen. Aufgabe wäre es, die eigene Meinung zu vertreten sowie in weltanschaulichen Fragen persönliche Entscheidungen zu treffen.
Die griechische Tragödie in zwei Akten
Gesagt, getan: Griechenland zum Beispiel wird seitens der Troika aus EU-Kommission, IWF und EZB dazu gezwungen, sich für die Gewährung von EU-Krediten einer schweren Rosskur zu unterwerfen. Deren Folgen sind dramatisch: Pensionen und Einkommen wurden um bis zu 50 Prozent gekürzt. 28 Prozent der Griechen sind arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 61 Prozent. 180.000 Kleinunternehmen haben schließen müssen. 2,5 Millionen Bürger sind ohne Krankenversicherung. Binnen eines halben Jahres stieg die HIV-Infektionsrate um 52 Prozent, 62 Menschen starben am wieder aufgetauchten West-Nil-Virus. Die Selbstmordrate hat sich verdoppelt.[1] Ist uns das egal? Mir nicht.
Und: Aus welchem Grund wird Griechenland diese Rosskur zugemutet? Die Antwort fällt naturgemäß je nach theoretischer Auffassung und politischer Einschätzung unterschiedlich aus. Doch wie war das noch mit der Analogie zur Landesverfassung? Es ist doch Aufgabe, die eigene Meinung zu vertreten und in weltanschaulichen Fragen persönliche Entscheidungen zu treffen, nicht wahr? Bitte schön, gern geschehen, hier ist meine Ich-Botschaft.
Ich bestreite nicht, dass die Fähigkeit des griechischen Staats, Steuereinnahmen bei seinen reichen Bevölkerungsteilen zu erzielen, in der Vergangenheit zu wünschen übrig ließ und dass Griechenland durch seine Fixierung auf Tourismus und Werften auch an strukturkritischen Problemen leidet. Doch das sind meines Erachtens nicht die Hauptprobleme. Diese liegen woanders: Griechenland weist in einer politisch nicht solidarisch integrierten EU vor allem gegenüber dem Lohndruckland BRD höhere Lohnstückkostensteigerungen auf, was zu Leistungsbilanzdefiziten führt, die sich nur durch höhere Staatsverschuldung finanzieren lassen. Außerdem konnte Griechenland seine Staatsverschuldung zu Zeiten, als die EZB noch nicht korrigierend eingegriffen hat, nur zu hohen Zinssätzen durchführen. Diese hohen Zinssätze fußen auf durch den Markt zugewiesenen hohen Risikoaufschlägen, die allen ökonomischen Problemen dieses Lands zum Trotz nicht gerechtfertigt sind. Kurzum: Griechenland ist also im ersten Akt vor allem Opfer einer nicht solidarisch integrierten EU-Politik.[2]
Obwohl Griechenland auch Opfer struktureller Asymmetrien und Versäumnisse in der EU ist, wird es im zweiten Akt behandelt, als wäre es für sein Schicksal selbst verantwortlich. Es wird mit ökonomischer Zerschlagung und Sozialabbau aufs Rohste sanktioniert – eine Politik, die nicht nur mit inakzeptablen Härten verbunden, sondern auch ökonomisch kontraproduktiv ist. Griechenland wäre nämlich nur geholfen, wenn im Rahmen abgestimmter europäischer Lohnpolitik zur Reduzierung ungleicher Entwicklung vor allem in der BRD höhere Lohnstückkostensteigerungen durchgesetzt würden; wenn in der EU eine solidarisch abgestimmte expansive Ausgabenpolitik inklusive Transferunion stattfände, so dass sich die Länder des Südens strukturell entwickeln könnten; wenn die EZB unkonditionierte monetäre Rettungsschirme für Krisenländer etablierte, die diesen hülfen.[3] Aber:
„Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so.“[4]
Die Troika-Politik gilt nämlich und wirkt zulasten der Mehrheit der Griechen, weil sie die Kreditvergabe an Bedingungen knüpft, die Griechenland Möglichkeiten rauben, wieder wirtschaftlich auf die Füße zu kommen. Allerdings ist die Situation nicht nur hoffnungslos.
SYRIZA tritt auf den Plan
Die Mehrheit der Griechen hat vom Troika-Oktroi die Nase voll. Verständlicherweise will sie nicht länger das Armenhaus Europas sein, bezweifelt den Sinn der Zerstörung ökonomischer Strukturen und des Sozialstaats und beklagt die Aushöhlung solidarischer demokratischer Formen durch die Kommandopolitik der Troika. Daher ist die Chance groß, dass die linke Partei SYRIZA bei den kommenden griechischen Parlamentswahlen stärkste politische Kraft wird. Denn SYRIZA stellt sich gegen das Troika-Memorandum, wie Thodoros Paraskevopoulos, Ökonom und Mitglied der Leitung der außenpolitischen Abteilung von SYRIZA, erläutert:
„Eine Aufkündigung des Memorandums von 2010 hat für SYRIZA aus zwei Gründen eine zentrale Bedeutung: Erstens ist die Politik, die es vorschreibt, an ihren erklärten Zielen gescheitert. Lagen die öffentlichen Schulden Griechenlands zum Zeitpunkt, als das Memorandum beschlossen wurde, bei 120 Prozent der Wirtschaftsleistung, so sind sie heute, nach vier Jahre dieser ›Reformpolitik‹, auf 175 Prozent gestiegen. Zweitens ist eine Stimme für die Linke gleichzeitig ein Votum gegen das Memorandum. Dessen Kündigung wird deshalb als Ausdruck der Volkssouveränität gesehen. Das allein wird aber nicht genügen. Das Memorandum muss durch einen Plan ersetzt werden, die griechische Gesellschaft wieder aufzubauen.
Die Ausgangsbedingungen dafür sind allerdings schlechter denn je. Nach vier Jahren Austeritätsregime ist vieles zerstört, auf das sich aufbauen ließe. In vielen Bereichen muss quasi von vorn angefangen werden. Hunderte von Gesetzen, Verordnungen und Regierungsmaßnahmen, die aus den Verpflichtungen des Memorandums hervorgegangen sind, prägen heute das Wirtschafts- und Sozialleben in Griechenland: Arbeitsverhältnisse wurden flexibilisiert, Individual- und Betriebsverträge in die Kostenkalkulation vieler Unternehmen integriert, der herabgesetzte Mindestlohn ist vor allem in kleinen Unternehmen inzwischen bestimmend. Gleichzeitig gibt es auch in bürgerlichen Kreisen der EU-Staaten Diskussionen über die Notwendigkeit eines Politikwandels, denn es ist kaum zu übersehen, dass das PIIGS-Modell mit Anleihen, Memoranden, Troika-Regime und radikalem Sparkurs gescheitert ist.“[5]
In diesem Zitat sind zwei Sätze von besonderem Interesse. Einerseits wird zugestanden, dass SYRIZA im Falle eines Wahlsiegs vor einer besonderen Herausforderung steht, nämlich über die Formulierung von Protest hinaus politische Konzeptionen zu entwickeln und umzusetzen, die die griechische Gesellschaft wieder aufbauen. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass die griechische Causa für die EU als Ganze von beträchtlicher Bedeutung ist, da sie die Frage aufwirft, ob ein Kurswechsel für Europa möglich ist.
Ein politisches Konzept für Griechenland
SYRIZA plant den Schritt in die sozial-ökologische Umgestaltung der Produktionsweise. Im Vordergrund stehen der Umbau der Wirtschaft hin zu einer ökologischen Energie-, Landwirtschafts- und Lebensmittelproduktion sowie die Förderung eines qualitativ hochwertigen Tourismus. Um dies zu organisieren, sind Investitionen, Innovationen sowie Forschung und Entwicklung erforderlich. Gleichzeitig sollen die Sozialsysteme stabilisiert, die öffentliche Verwaltung auf transparenter Basis erneuert, das Finanzsystem unter öffentliche Kontrolle gestellt und die Gesellschaft demokratisiert werden.[6]
Auch wenn diese Vorschläge in ihrer Gesamtheit noch ein wenig vage anmuten, ist klar, dass eine solche Politik nicht möglich ist ohne veränderte Rahmenbedingungen, insbesondere ohne verbesserte Finanzlage. SYRIZA spricht sich daher zum einen für eine effektivierte Steuererhebung bei hohen Einkommen und Vermögen aus. Zum anderen plädiert SYRIZA für Neuverhandlungen über den griechischen Schuldendienst. In Rede steht beispielsweise eine zeitliche Streckung des Schuldendienstes gegenüber der EU und ihren Institutionen. Ob es einen Schuldenschnitt geben soll und, wenn ja, ob er für private und / oder öffentliche Investoren gilt, darüber ist sich SYRIZA genauso uneinig wie größere Teile der kritischen linken Literatur.[7] Auch die Frage, ob künftige Kredite eher über den günstiger verzinsten, aber konditionierten EU-Fonds ESM oder über den teurer verzinsten, aber unkonditionierten privaten Kapitalmarkt aufgenommen werden sollen, ist innerhalb von SYRIZA und auch in der Linken allgemein umstritten.[8]
Über das Ende des Troika-Oktrois sowie über verbesserte Finanzierungskonditionen möchte SYRIZA im Falle der Regierungsbeteiligung hart mit der EU verhandeln. Auch wenn SYRIZA-Chef Tsipras, vermutlich auch aus Wahlkalkül, zuletzt die Tonalität gegenüber der EU verschärft hat,[9] ist zu betonen, dass SYRIZA weder für einen Austritt Griechenlands aus der EU noch für einen aus der Europäischen Währungsunion plädiert:
„Die Rückkehr in die Kleinstaaterei kann keine Perspektive sein. Die Problem der EU, die Übermacht der größeren Staaten sowie undemokratische Entscheidungsprozesse, in denen die Parlamente zu bloßen Ratifizierungsorganen degradiert werden – all das muss gemeinschaftlich und nicht nationalstaatlich gelöst werden. Dennoch kann ein »Ja« zu einer europäischen Lösung des Schuldenproblems für Griechenland nicht bedingungslos sein, und die Bedingung ist das Überleben der griechischen Gesellschaft. Genau dies drückt sich in einer Erklärung von SYRIZA aus: »Wir werden keine einseitigen Schritte unternehmen, es sei denn wir werden dazu gezwungen!«“[10]
Zudem hat SYRIZA in einem bemerkenswerten parteiinternen Lernprozess die eigene Mitgliedschaft auf die Aufgaben und Herausforderungen vorzubereiten versucht, die mit der Übernahme von Regierungsverantwortung verbunden sind. Darüber hinaus stehen Verantwortungsträger von SYRIZA schon heute in intensiverem Austausch mit politischen Entscheidungsträgern in anderen Nationalstaaten sowie in der EU.[11] SYRIZA ist also keineswegs die Meute Ahnungsloser, als die sie deutsche Zeitungen gerne skandalisieren möchten,[12] sondern ist sich der theoretischen und praktischen Herausforderungen durchaus bewusst. Wahr ist aber in der Tat, dass SYRIZA eine Erhöhung sozialstaatlicher Leistungen, die Einführung eines Mindestlohns, eine solidarischere EU-Politik und eine stärkere Vergemeinschaftung der EU-Finanzpolitik einfordert; dass SYRIZA die Rolle der deutschen Regierung in der EU kritisiert; dass SYRIZA für eine gerechtere Reparationszahlungspolitik für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg plädiert. Und ich finde, dass SYRIZA damit eindeutig in die richtige Richtung geht.
Deutsche Zeitungen verschärfen den Ton
Diese Position wird von Teilen der konservativen und liberalen Presseorgane in Deutschland heftig kritisiert. Die BILD-Zeitung und die FAZ sind mehrheitlich empört darüber, dass die Griechen es wagen, sich einer weiteren Unordnung unter ein Programm aus ökonomischer Schrumpfung und Sozialabbau zu verweigern. Die BILD schreibt:
„Der linke Grieche will seine Wunschliste vom deutschen Steuerzahler bezahlen lassen. (…) Klartext: Er will uns ans Geld. Dabei muss man bedenken, dass Deutschland für die Griechen in Millionenhöhe haftet. Doch der Grieche möchte als Premier zusätzlich den Europäischen Stabilitätsmechanismus aushebeln und vollständige Kontrolle über die Banken ausüben. Was dann mit unserem Geld passiert, würde niemand mehr kontrollieren können. Vielleicht möchte er damit ja seine Mindestlohn-Forderung bezahlen. Auf monatlich 751 Euro soll dieser im Falle einer linken Regierung erhöht werden. Doch der echte Hammer ist die Forderung nach mehr Arbeitslosengeld.“[13]
Gewiss lässt sich über das Ausmaß sozialstaatlicher Verbesserungen, über die Höhe eines Mindestlohns, über die Konkretion solidarischer EU-Politik, über die Art finanzieller EU-Vergemeinschaftung sowie über den Umfang von Reparationszahlungen trefflich streiten, aber darum geht es der BILD-Zeitung überhaupt nicht. Ihr geht es darum, das griechische Ansinnen nach einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen grundsätzlich madig zu machen und jegliche Revision der wirtschaftsliberal geprägten EU-Verfassung und EU-Politik zu skandalisieren. Eine Hinwendung hin zu einer Politik, die demokratischeren Verfahrenswegen den Weg ebnet und die Rechte von Lohnabhängigen stärkt, ist für die BILD-Zeitung des Teufels.[14]
Kurzum: Das Zentralorgan des deutschen Boulevards, das zu Zeiten des European Song Contests gern die Werte Europas bemüht, ist in Wahrheit national borniert und bringt das deutsche ‚wir hier‘ gegen das griechische ‚die da‘ in Stellung. Eine Stärkung Europas soll es offenbar für die BILD nur geben, wenn es wenig kostet, wenn es Unternehmen nicht belastet und wenn Deutschland nicht zahlt. „Freude, schöner Götterfunken“[15] sieht anders aus. Doch auch die Kommentatorin der FAZ ist erbost:
„Tsipras an der Macht? Diese Vorstellung ist der Albtraum der europäischen Politiker, die die Rettung Griechenlands zu verantworten haben. Die Reformen, die sie Athen verordneten, waren schließlich der Preis für die enormen Hilfsprogramme, mit denen die EU, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank das überschuldete Land seit fünf Jahren stützen und in der Eurozone halten. (…) Sollte Tsipras siegen und seine Versprechen wahr machen, verliert die Rettungspolitik nach dem Muster ‚Geld gegen Reformen‘ die letzte Glaubwürdigkeit. Diese ist im Falle Athens ohnehin erschüttert durch diverse Lockerungen der Auflagen und Nachverhandlungen. Erst kurz vor Weihnachten wurde den Griechen weiterer Aufschub gewährt, weil bis Dezember fällige Reformen nicht verwirklicht wurden.“[16]
Sicherlich ist der Ton der FAZ-Kommentatorin gewählter als jener der BILD, aber die Botschaft ist dieselbe. Innereuropäische Solidarität ist offenbar eine hohle Phrase, die nichts mehr gilt, sobald es ernst wird. Denn mit Solidarität darf Griechenland nur rechnen, wenn es sich bereit erklärt, der Oktroi des bislang schon gescheiterten Sparkurses weiter zu nachzukommen, nicht aber, wenn es Revisionen einfordert. Und das Leitbild der Demokratie wird in der FAZ so gelebt, dass die Möglichkeit einer demokratischen Wahl einer demokratisch verfassten Kraft wie SYRIZA als Albtraum angekündigt wird.
Nicht also dass BILD und FAZ Kritik an SYRIZA üben, ist problematisch – das gehört zum Meinungsstreit dazu. Problematisch ist jedoch, dass in Teilen der Presse die für das Zusammenleben Europas notwendige europäische Solidarität auf dem Altar einer falschen Wirtschaftspolitik geopfert und Demokratie nur unter Ausschluss unliebsamer Kräfte definiert wird.
Pokerspiel in Europa
SYRIZA ist, wie erläutert wurde, mehrheitlich für einen Verbleib in der EU und der Europäischen Währungsunion, möchte jedoch eine wirtschaftspolitische Umkehr erreichen. Doch wie kann es ihr gelingen, ausgerechnet jene Politiker in Europa zu einer Umkehr zu bewegen, die ihr das Programm verordnen, das SYRIZA beseitigt sehen möchte? SYRIZA hat angesichts des durch die Troika-Politik verursachten desolaten Zustands der griechischen Ökonomie keine größeren eigenen Machtressourcen in der Hand. SYRIZA kann aber das Schreckensszenario andeuten, das eintreten könnte, wenn die Troika bei Weigerung Griechenlands, den Sanktionen zu folgen, den Geldhahn zudrehen würde.
Das Szenario lautet wie folgt: Griechenland würde als Mitglied der Europäischen Währungsunion zahlungsunfähig werden und könnte seine in Euro notierten Schulden nicht mehr begleichen. Damit würde die EZB als Teil der Troika signalisieren, dass sie nicht mehr bereit wäre, die Ansprüche der Halter von griechischen Staatsanleihen zu sichern. Und nicht nur das: Die EZB würde auch das Vertrauen der Halter anderer südeuropäischer Staatsanleihen in den Keller treiben. Dadurch käme es zu massenhaften Verkaufsgesuchen, die für Kursstürze und Wertverluste der Halter sorgen würden. Staatliche Halter erlitten Haushaltsprobleme, Banken hätten einen eingeengten Kreditvergabespielraum, private Halter wären mit Vermögensverlusten konfrontiert. Die Zinsen würden allerorten steigen. Private Investitionen in Europa könnten unterbleiben, Staatsausgaben könnten rückläufig sein, die Krise wäre offen ausgebrochen. SYRIZA könnte sagen: Wenn das vermieden werden soll, dann gebt uns zu besseren Bedingungen Kredite.
Die Troika und die bundesrepublikanische Führung als wichtigster Akteur in der EU malen ein anderes Szenario an die Wand, das wie folgt lautet: Griechenland hätte die Wahl zwischen Fortsetzung des Sparkurses oder Ausstieg aus der Währungsunion. Würde es aus ihr ausscheiden, hätte das keine besonders schweren Auswirkungen. Griechenland müsste den Grexit einführen, die Frage, wie mit den Wertverlusten der Inhaber umlaufender griechischer Staatsanleihen umzugehen sei, müsse aktuell nicht diskutiert werden, und Ansteckungsgefahren auf andere Länder Südeuropa bestünden auch nicht. Ein erneutes Ausbrechen der Krise sei also wenig wahrscheinlich. Daher sei ein Austritt Griechenlands verkraftbar.[17] Und wenn Griechenland nicht spure, müsse es eben ausscheiden.
Das Dramatische an der Situation ist jedoch, dass es um mehr als dieses Pokerspiel vorgetragener Szenarien zum Durchsetzen der eigenen Position geht. Die Frage ist, was uns denn wirklich droht. Welches Szenario ist das wahrscheinlichere? Auch hier möchte ich mit einer Ich-Botschaft aufwarten. Ich halte das von SYRIZA beschriebene Szenario leider für realistisch. Bei einem Austritt Griechenlands käme es zu Spekulationen gegen Anleihen Südeuropas, zu einem Zinsanstieg, zu verschärften Austeritätsmaßnahmen und zu einem Wiederausbruch der Krise. Angesichts der dann bevorstehenden Divergenzen zwischen nord- und südeuropäischen Ländern stünde dann das ganze europäische Projekt auf der Kippe. Da dem so ist, steht SYRIZA gewissermaßen vor einem Dilemma. SYRIZA muss mit einem Szenario argumentieren, dessen Eintritt sie aus griechischer und aus europäischer Perspektive unbedingt vermeiden sollte. Das Bekenntnis zur Verhinderung des Eintritts kann die eigene Verhandlungsposition verschlechtern, ist aber trotzdem notwendig. Es bleibt zu hoffen, dass die Mehrheitskräfte in SYRIZA dies genauso sehen.
Umso notwendiger ist es daher, dass SYRIZA in Fragen der Ausgabenpolitik nicht alleine dasteht. Progressive Kräfte aus ganz Europa sollten SYRIZAs Kampf für ein Ende der Austerität, für eine Umgestaltung der Ökonomie, für einen Wiederaufbau des Sozialstaats und für eine effektivere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen unterstützen. Damit ist aber auch die Frage aufgeworfen, wie sich progressive Kräfte zur Frage des Schuldenproblems in Griechenland und zur europäischen Integration verhalten sollten.
Zweifelsohne hat Griechenland ein Schuldenproblem. Die Schuldenquote als Verhältnis von Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt beträgt in Griechenland mehr als 170%. Doch ist die Schuldenquote alleine nicht maßgeblich, zumal ihr Anstieg in Griechenland in erheblichem Ausmaß auf den Einbruch des Bruttoinlandsprodukts zurückzuführen ist. Die Analyse müsste daher auch die Zinslastquote als Quotient von Zinsausgaben zu Staatseinnahmen ins Visier nehmen.
Man sieht, dass Griechenland auch hier ein Problem hat, da die Zinslastquote in diesem Land fast doppelt so hoch ist wie in Deutschland. Auch wird der Einfluss der Krise deutlich. Ab 2009 schnellen die Werte in Griechenland von 12,96% bis auf 16,63% im Jahre 2011 nach oben. Denn erstens steigen in der Krise die Zinszahlungen wegen zusätzlich aufzunehmender Kredite allgemein, zweitens bestrafen die Finanzmärkte Griechenland mit höheren Risikoprämien,[18] und drittens sinken die Staatseinnahmen wegen eines rückläufigen Bruttoinlandsprodukts.
Doch man sieht, dass selbst hier die Lage nicht hoffnungslos ist, denn die Zinslastquote ist wieder rückläufig: Zum einen muss Griechenland auf die durch den Europäischen Stabilitätsfonds erhaltenen Kredite nur reduzierte Zinsen zahlen; zum anderen kann es sich wieder günstiger auf dem Kapitalmarkt finanzieren, da infolge der richtigen Politik der EZB, im Notfall griechische Staatsanleihen aufzukaufen, die Risikoprämien gesunken sind.[19] Dies zeigt, dass der von SYRIZA ins Spiel gebrachte Schuldenschnitt für öffentliche Halter griechischer Staatsanleihen womöglich nicht nur nicht zwingend ist, sondern auch falsch sein könnte, da durch ihn die Zinssätze für Griechenland wieder steigen könnten.[20] Doch das ändert alles nichts daran, dass Griechenland selbstredend ein Schuldenproblem hat, das zu bewältigen ihm bei Fortsetzung der Austerität sehr schwer fallen dürfte.
Politikwechsel für Europa!
Aus diesem Problem kommt Griechenland, kommen die anderen Länder Südeuropas, kommt die EU als ganze nur raus, wenn sich grundlegend etwas an der Politik in Europa ändert. Was wir bräuchten, ist also ein echter Politikwechsel: Erstens muss die Austerität in den Ländern Südeuropas eingestellt werden. Zweitens müssen innerhalb Europas viel mehr unkonditionierte Hilfsmittel an die Länder Südeuropas fließen und muss die EZB an ihrer richtigen Trendwende, nötigenfalls Staatsanleihen südeuropäischer Länder aufzukaufen, festhalten. Drittens müssen mit diesen und anderen Mitteln umfassende öffentliche Investitionen in Europa stattfinden: vor allem in den Ländern des Südens, aber auch in den Regionen des Nordens, in denen Bedarf besteht. Viertens brauchen wir zum Abbau der Ungleichgewichte in Europa deutlich höhere Lohnsteigerungen in Ländern mit Leistungsbilanzüberschuss wie Deutschland und höhere Produktivitätssteigerungen in Ländern mit Leistungsbilanzdefizit wie Griechenland. Fünftens brauchen wir dafür eine intensivierte europäische Integration auf solidarischer und demokratischer Grundlage.
Schuldenschnitte in großem Stil, die sicherlich gut gemeint sein könnten, bergen eine Gefahr in sich, denn wenn Halter südeuropäischer Staaten davon ausgehen müssen, dass ihre Ansprüche nicht vollständig erfüllt werden, sinken die Kurse und steigen die Renditen und womöglich auch die Zinssätze auf neu auszugebende Staatsanleihen.
Dramatisch wird die Lage, wenn sich das Machtzentrum aus Deutschland und Troika dazu entschließt, die Länder Südeuropas hängen zu lassen. Dann wird es definitiv zu steigenden Zinssätzen auf neu auszugebende Staatsanleihen kommen: Und nicht nur das: Dann verschärfen sich ökonomische Schrumpfung und Sozialabbau. Es kommt zu Krisen und Zerreißproben innerhalb Europas, die die EU vermutlich nicht überstehen wird.
Die griechische Frage ist also auch deswegen spannend, weil sie die EU in ihrem Kern betrifft und somit weit über Griechenland hinausgeht. Das Spiel, das gespielt wird, heißt zwar zunächst Troika gegen SYRIZA, doch betroffen sind wohl wir alle in Europa vom Ausgang dieses Spiels – komme es nun zur Fortsetzung der desaströsen Austerität oder zu ihrer Verschärfung mit Austritten aus der Europäischen Währungsunion oder aber zu einem Politikwechsel auf solidarischer Grundlage, wofür ich plädiere. Die Auffassung, dass das uns in Deutschland ja nichts angehe, ist also offenkundig falsch.
Und da das so ist, kann ich nur hoffen, dass Dynamik in die bundesdeutsche Bevölkerung reinkommt, dass die biedermeierische Bequemlichkeit ein Ende findet und die Individuen ihre eigene Meinung vertreten sowie in weltanschaulichen Fragen persönliche Entscheidungen treffen. Und genau das war ja auch mein Traum. Und träumen wird ja wohl noch erlaubt sein, oder?
Literatur
[1] Der Originaltext von fidh: Downgrading rights: the cost of austerity in Greece, Paris 2014, findet sich unter https://www.fidh.org/IMG/pdf/grece646a2014.pdf. Die Zahlen wurden entnommen aus Lachmann, Günther: Das Leiden der Griechen verwandelt sich in Wut, in: Die Welt vom 28.12.2014, http://www.welt.de/politik/ausland/article135808460/Das-Leiden-der-Griechen-verwandelt-sich-in-Wut.html.
[2] Vgl. Recht, Alexander: Europa in der Krise: Elemente einer LINKEN Gegenstrategie, in: Schriftenreihe der Sozialistischen Linken Köln, Band 1, Köln 2011, S. 3, https://www.dropbox.com/s/7cvuvp4egmljmyq/Europakrise.pdf?dl=0.
[3] Vgl. ebenda, S. 12. Es soll nicht verschwiegen, sondern positiv erwähnt werden, dass die EZB seit zwei Jahren eine Kursänderung vollzogen hat und fortsetzen sollte, nämlich eine großzügigere Geldversorgung und eine Verbesserung der Refinanzierungsbedingungen für südeuropäische Länder im Zuge ihrer Outright Monetary Transactions (OMT). Leider agiert die EZB jedoch weiterhin als Teil der Troika, die die Austeritätspolitik verordnet. Vgl. Recht, Alexander / Löser, Torsten: Linke Streitpunkte zur Geld- und Finanzpolitik der EU, in: SoFoR-Info 53/2014, http://www.sf-rheinland.de/sofor-info-53-2014/artikel/linke-streitpunkte-zur-geld-und-finanzpolitik-der-eu.
[4] So lautet Brechts berühmte Textzeile aus seinem Lied „Über die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse“ in der „Dreigroschenoper“.
[5] Paraskevopoulos, Thodoros: Last Exit Griechenland? Mit SYRIZA raus aus der Krise, in: Zeitschrift Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Heft 1/2014, S. 50, http://www.zeitschrift-luxemburg.de/last-exit-griechenland-mit-syriza-raus-aus-der-krise.
[6] Vgl. ebenda, S. 54-57.
[7] Ich selber bin skeptisch gegenüber einem Schuldenschnitt, da dieser zwar zunächst die Schuldenlast senkt, aber die künftigen Zinskosten Griechenlands und auch anderer Länder des Südens in die Höhe schnellen lassen könnte, vgl. Recht, Alexander: Europa in der Krise, a. a. O., S. 8-11, sowie Recht, Alexander / Löser, Torsten: Linke Streitpunkte zur Geld- und Finanzpolitik der EU, a. a. O.
[8] Vgl. Lieb, Wolfgang: Nach der ersten Runde der Athener Präsidentenwahl – Die Chancen und Möglichkeiten für die Syriza nach Neuwahlen, http://www.nachdenkseiten.de/?p=24353.
[9] Vgl. ebenda.
[10] Paraskevopoulos, Thodoros: Last Exit Griechenland?, a. a. O., S. 53.
[11] Vgl. Lieb, Wolfgang: Nach der ersten Runde der Athener Präsidentenwahl, a. a. O., sowie Lehndorff, Stephen: Interview. „SYRIZA als Vorbild: Konsequent an den politischen Alternativen arbeiten“, in: realistisch und radikal. Das Debattenheft der Sozialistischen Linken 3/2014, S. 17, http://www.sozialistische-linke.de/images/dateien/texte/R+R-2014-Europa.pdf. Es soll damit nicht negiert werden, dass es in SYRIZA unterschiedliche Auffassungen über die Notwendigkeit der Entwicklung von Expertise und der grundsätzlichen Beibehaltung des Weges europäischer Integration gibt und dass auch in Teilen der Mitgliedschaft von SYRIZA noch immer naive Politikvorstellungen gang und gäbe sind.
[12] Ein besonders geschmackloses Beispiel gibt die BILD-Zeitung, ab, vgl. o. V: Europa in Angst vor Machtwechsel. Die Hetz-Protokolle des linken Griechen, in: BILD vom 02.01.2015 ab, http://www.bild.de/politik/ausland/alexis-tsipras/hetz-protokolle-des-linken-griechen-39149048.bild.html.
[13] Ebenda.
[14] Vgl. ebenda.
[15] So lautet die erste Zeile des berühmten Schiller-Gedichts „An die Freude“, zu dem Beethoven einst die Musik komponierte, die noch heute als Europahymne fungiert.
[16] Göbel, Heike: Wieder Stress mit Athen, in: FAZ vom 29.12.2014, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kommentar-wieder-stress-mit-athen-13345749.html.
[17] Vgl. o. V.: Schäuble soll Athen zum Euro-Austritt geraten haben, in: FAZ vom 04.01.2015, http://www.faz. net/aktuell/euro-krise-schaeuble-soll-athen-zum-euro-austritt-geraten-haben-13352302.html.
[18] Gehen die Akteure der Finanzmärkte von Zahlungsausfällen aus, reduzieren sie ihre Zahlungsbereitschaft und zahlen einen geringeren Kurs für gehandelte griechische Staatsanleihen. Da jedoch die Zahlungsverpflichtungen Griechenlands nominal gleich bleiben, wächst für einen Anleger das Verhältnis aus empfangenen Zinsen und Tilgung einerseits und gezahltem Kurs andererseits: die Rendite steigt. Den Überschuss dieser erhöhten Rendite über eine Rendite einer sicheren Anlage nennt man Risikoprämie. Das Problem besteht dann darin, dass Griechenland sich wegen der erhöhten Renditen auf umlaufende Staatsanleihen auch teurer bei neu zu emittierenden Staatsanleihen verschulden muss.
[19] Indem die EZB ankündigt, alle griechischen Anleihen nötigenfalls aufzukaufen, reduziert sie die Erwartungen der Finanzmarktakteure auf Zahlungsausfälle Griechenlands, so dass der Kurs allein schon deswegen steigt und die Renditen sinken. Kauft die EZB tatsächlich, steigt der Kurs wegen gestiegener Nachfrage noch weiter und sinkt die Rendite noch stärker. Zusätzlich sollte gegen den falschen Eindruck von Hoffnungslosigkeit erwähnt werden, dass für den Fall, dass das BIP-Wachstum größer als der Zinssatz ist, die Schuldenquote sogar bei einem Primärdefizit sinkt, sofern das Produkt aus Differenz von Zinssatz und BIP-Wachstum sowie Schuldenstand größer als das in positiven Zahlen ausgedrückte Primärdefizit ist, vgl. Himpele, Klemens / Recht, Alexander: Sparen – nach deutschem Vorbild?, unveröffentlichtes Manuskript, Köln 2014, S. 5, https://www.dropbox.com/s/cs0tudnscd6mi91/Recht_Himpele_neu.pdf?dl=0.
[20] Bei einem Schuldenschnitt gehen die Anleger wie bei Endnote 18 von Zahlungsausfällen aus, so dass die Renditen steigen. Teile von SYRIZA hoffen, dass ein einmaliger Schuldenschnitt nicht mit der Erwartung von Anlegern, dass es auch künftig zu Zahlungsausfällen komme, einhergeht. In diesem Falle würde der Vorteil erleichterter Schuldenlast nicht durch den Nachteil künftig steigender Zinslasten konterkariert. Diese Annahme ist jedoch fraglich – klären kann das nur die Empirie. Hinzu kommen jedoch zwei weitere Probleme bei einem Schuldenschnitt. Erstens würde ein Schuldenschnitt in Griechenland die Kraft der EZB, durch die Ankündigung des Aufkaufs von Staatsanleihen Zahlungsausfälle als unwahrscheinlich zu erklären und für Kursstabilisierung zu sorgen, reduzieren. Es drohen spekulative Attacken auf Staatsanleihen auch aus anderen Ländern Südeuropas. Zweitens befinden sich unter den Anlegern der griechischen Staatsanleihen auch viele staatliche Stellen Europas. Warum sollten eigentlich genau diese und damit auch die geringverdienenden Steuerzahler ihre Ansprüche reduzieren, nicht aber private Gläubiger?