Zugegeben, wer einen Film sucht, in dem die informationstechnologischen Anfänge der Kryptologie präzise aufbereitet werden, den stellt der Film The Imitation Game, der Leben und Wirken des britischen Informatikers Alan Turing vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg nachzeichnet, vermutlich nicht ganz zufrieden. So wird auf allzu intensive Erläuterung technischer Details verzichtet, und dass im Film eine mit Kryptologie befasste britische Expertencrew im Zweiten Weltkrieg erst nach Ablauf mehrerer Monate auf die Idee kommt, dass immer wiederkehrende Wörter die Komplexität einer Dekodierungsaufgabe reduzieren könnten, ist kein besonders überzeugendes Szenario.
Auch Fans detailgetreuer Historiographie werden Einwände erheben. Gab es überhaupt einen sowjetischen Geheimagenten in der britischen Expertencrew? War es überhaupt der sich als falsch erweisende Vorwurf der Kooperation mit einem sowjetischen Geheimagenten, der Turing in der Nachkriegszeit in die Mühlen der Justiz drängte, oder war es nicht vielmehr von Anfang an der Vorwurf damals noch strafbewehrter homosexueller Handlungen? Und gab es überhaupt schon Tipp-Ex in der unmittelbaren Nachkriegszeit? Vermutlich wird der ein oder andere Einwand berechtigt sein – als Musterbeispiel genauer geschichtlicher Rekonstruktion taugt der Film also wohl nur begrenzt.
Doch ist davon auszugehen, dass es dem Film weder um eine profunde Einführung in die Anfänge der Kryptologie noch um eine detailgetreue Historiographie geht. Gegenstand des Films ist vielmehr das Problem der Semiotik in allen Lebenslagen. Menschen agieren und kommunizieren mit ihren Mitmenschen mithilfe von Zeichen und Symbolen. Was der Sender artikuliert, ist dem Empfänger nicht immer oder nicht immer unmittelbar erkenntlich. Im Fall der Kryptologie wird das Erkenntnisproblem des Empfängers bewusst herbeigeführt: Der uninformierte Empfänger soll die Symbolik ja gar nicht verstehen. Nur informierte Empfänger, die den Code der Transformation bekannter in unbekannte Zeichenfolgen kennen und die Rücktransformation bewerkstelligen können, sollen in der Lage sein, das Erkenntnisproblem zu überwinden.
Ein wenig anders ist es im Falle sozialer Interaktion zwischen Menschen, deren Verständnisprobleme nicht von Anfang an intendiert sind. Ein Merkmal der menschlichen Gattung, lässt uns der von Benedict Cumberbatch überzeugend dargestellte Alan Turing zum Ende des Films hin wissen, besteht in der immensen Diversität ihrer Individuen. Der eine mag Schach, der andere Fußball; der eine liebt das andere, der andere das gleiche Geschlecht; der eine ist extro-, der andere introvertiert; der eine sucht seinen Partner zurückhaltend, der andere offensiv; der eine präferiert die kapitalistische, der andere die kommunistische Gesellschaft; der eine liebt das Vertrauen, der andere die Intriganz; der eine schwört auf formale Hierarchien, der andere auf Rangfolge nach Exzellenz; der eine drängt auf geschlechtsspezifische Rollenzuweisung, der andere auf deren Überwindung. Der Topos der Diversität wird im Film dabei nicht nur ausgiebig theoretisch angedeutet, sondern auch durch die Rollen repräsentiert.
Alan Turing, Chef der Kryptologiecrew, wird vorgestellt als schwuler, genialer Technik-Nerd mit autistischen Zügen, der Unsicherheit und Verklemmtheit hinter gepflegter Arroganz versteckt und trotz seiner oberflächlich abweisend-kühl anmutenden Haltung gegenüber Mitmenschen im Kern von großer Leidenschaft für die Menschen inspiriert ist. Turings Mitstreiterin Joan Clarke, gespielt von Keira Knightley, wird präsentiert als attraktive Mathematikerin, die schwankt zwischen ihrem Begehren nach Romantik und jenem nach professioneller Geltung, zwischen der Sehnsucht nach Anerkennung durch ihre Eltern und jener nach Loslösung von diesen. Die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen – die Vielfalt unterschiedlicher Charaktere drückt dem Film ihren unverkennbaren Stempel auf.
Mit Richard Florida, dem US-amerikanischen Theoretiker des Konzepts der creative class, ließe sich durchaus zurecht behaupten, dass der Erfolg der britischen Kryptologie-Bemühungen im Zweiten Weltkrieg durch die produktivitätswirksame individuelle Vielfalt und Diversität innerhalb der Crew enorm begünstigt wurde. Allerdings belässt es der Film nicht bei der Darstellung von Vielfalt und beim Verweis auf deren Wirksamkeit. Vielmehr macht der Film deutlich, dass Vielfalt alleine nicht genügt, sondern dass es der Kommunikation zwischen den verschiedenen Individuen bedarf – eine Aufgabe, die keineswegs leicht zu bewältigen ist. Da gilt es Vielfalt auszuhalten, da müssen Widersprüche infolge einander widersprechender Charakteristika, Begehren und Konzepte produktiv gewendet werden, und da muss neben den Momenten von Erfolg und Glück auch die Erfahrung des Scheiterns verarbeitet werden. Ein paar Beispiele:
Turing ist zwar auf seine verschrobene Introvertiertheit angewiesen, muss aber zur Einbindung notwendiger Mitstreiter eine Zugänglichkeit zu seinen Kollegen finden. Später geht Joan Clarke eine Beziehung mit Turing ein, die ihr einerseits Zutritt zu einem professionellen Umfeld verschafft, das ihr sonst verschlossen bliebe, ihr andererseits aber aufgrund von Turings Homosexualität nicht die romantische Erfüllung gibt, nach der sie sich sehnt. Turing erfährt in einem Tanzclub, dass sein Crew-Mitstreiter Hugh Alexander als Frauenheld über eine Fähigkeit zur Dekodierung kryptischer Symbolik im Balzspiel zwischen einander begehrenden Menschen verfügt, die ihm selbst nie zuteilwerden wird. Turing erfährt noch als junger Mann vom Tod seiner Jugendliebe Christopher, des einzigen Menschen in seinem Leben, der in der Lage war, seiner Neigung, Gefühle in abstrakten Codes auszudrücken, mit Liebe zu begegnen, und projiziert dieses von Entsagung geprägte Liebesgefühl später auf seine Maschinen.
Auf diese Weise überschreitet der Film den engen Umkreis seines historischen Zeitkerns und widmet sich allgemein dem individuellen Umgang mit Widerspruch, mit Liebe und Glück sowie mit Entsagung und Scheitern in einer durch Diversität gekennzeichneten Gesellschaft, also den großen Fragen des Lebens. Dass der Umgang mit Widerspruch dem Individuum eine persönlich anzueignende Kompetenz abverlangt, liegt auf der Hand, doch es wäre ein Missverständnis, die Bewältigung dieser Aufgabe den Individuen alleine zukommen zu lassen. Vielmehr ist es die Gesellschaft mit ihren Sozialisationsinstanzen, die Einstellungen, Absichten, Begehren und Toleranz mitprägt.
Besonders deutlich wird das am Ende des Films: Das Nachkriegsengland ist prüde und sexuell ausschließend und stellt homosexuelle Handlungen unter Strafe. All seiner Leistungen für die britische Gesellschaft zum Trotz wird daher der schwule Turing von den Strafbehörden verfolgt und vor die Wahl gestellt, entweder in den Knast einzuziehen und seine Forschungen ad acta zu legen oder aber in Freiheit zu bleiben, aber sich einer grausamen Hormonbehandlung zu unterwerfen, die zur chemischen Kastration führt. Turing entscheidet sich für die Hormonbehandlung, doch gerät dadurch in eine depressive Stimmung, die ihn letztlich in den Suizid treibt – ein politischer Skandal, für den sich das britische Königshaus stellvertretend für den Staat erst im 21. Jahrhundert entschuldigt hat.
Welche der Widersprüche und Momente von Glück und Scheitern der Film auch zeigt: Es sind Technik und Soziostruktur einerseits und Wille und Leidenschaft der Menschen andererseits, die aufeinanderprallen, Widersprüche konstituieren und in den Weggabelungen der Geschichte über Wohl und Wehe entscheiden. Die Aufgabe der Menschheit, solche Widersprüche zuzulassen und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die eine Verarbeitung der Widersprüche zugunsten der Individuen ermöglichen, stellt sich nach wie vor.