Selbstreflexiver Stunk?

Als sich die Stunksitzung Anfang der 80er Jahre gründete, war ihr Programm klar definiert: kabarettistischer statt etablierter Karneval, Verballhornung privilegierter sozialer Schichten, Kritik an einer Gesellschaft, die Privilegien und immenser Ungleichheit den Weg bereitet.

Schlüssigerweise ergriff die Stunksitzung Partei für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen und nahm gesellschaftliche Institutionen und Akteure aufs Korn, die enorme Ungleichheit beschweigen oder gar affirmieren. Auch der etablierte Karneval selber war folglich Gegenstand der Kritik.

So weit, so gut. Ich finde, die Stunksitzung lag und liegt noch immer richtig mit diesem Ansatz. Zurecht ergreift sie Partei: etwa für Menschen, die Probleme bei der Wohnungssuche haben, oder für Geflüchtete, die in reichen Nationalstaaten auf Ablehnung stoßen.

Berechtigterweise veräppelt sie Leugner des anthropogenen Klimawandels, spottet sie über Eltern von Ökokids, die selber SUV fahren, macht sie Witze über Trump und Johnson mit deren nationalistischem Kurs. Mit gutem Grund nimmt sie die Kirche auf den Arm, die sich kaum hinterfragt und ihre Praxis zu wenig revidiert. Richtigerweise übt sie Kritik an der AfD, die gesellschaftliche Spaltungen enorm befördert, und zieht sie die CDU für ihre Bräsigkeit und die SPD für ihre Wankelmütigkeit durch den Kakao.

Die FDP blieb bei der stunkigen Kritik diesmal außen vor – vielleicht ist diese Partei aktuell einfach zu unbedeutend. Habecks GRÜNE wurden ein wenig veräppelt, DIE LINKE nur ein klein bisschen. Zugestanden: Es kann nicht alles gleichgewichtig sein, und es ist nachvollziehbar, dass eine Veranstaltung mit linksalternativer Tradition sich eher an der konservativen Seite abarbeitet. Dennoch habe ich die Sitzung mit einem Unbehagen verlassen. Warum?

Als die Stunksitzung Anfang der 80er den etablierten Karneval kritisierte, bemängelte sie, dass dessen Künstler und seine Zuschauer ihre Witze oft auf Kosten anderer machten, sie aber selten selbstreflexiv auf sich bezogen. Damit traf und trifft sie bis heute einen Punkt. Doch müsste eine Stunksitzung, die es ernst meint, ihre kritische Sicht auf die Verhältnisse auch ihrerseits auf sich und ihr Publikum beziehen. Das ist aber nur wenig der Fall.

Es kehrt dann das sich rebellisch wähnende Publikum zur Stunksitzung ins E-Werk ein: die Pärchen mit bürgerlich-familiärer Vater-Mutter-Kinder-Lebensweise; die Bezieher von Einkommen, deren Durchschnitt deutlich über dem gesellschaftlichen Mittelwert liegt; die Eigentümer selbstgenutzter und vermieteter Wohnungen; die Erben hoher Vermögen; die Berufstätigen, die in der professionellen Hierarchie hoch angesiedelt sind; die Wähler von CDU, SPD, GRÜNEN, FDP und ja: auch der LINKEN.

Kommt das Unglück der bürgerlichen Familie in der Stunksitzung zur Sprache? Wird die immense Ungleichheit von Einkommen und Vermögen thematisiert? Wird erzählt, dass zur Wohnungsproblematik auch der Umstand dazugehört, dass Personen privates Eigentum an Wohnraum haben, das zum Zwecke der Alterssicherung nicht nur nach sozialen Kritierien vermietet wird?

Wird neben dem Nationalismus von Trump und Johnson auch kritisiert, dass Merkel und Schäuble im Europäischen Rat den Südländern der EU eine Austeritätspolitik verordnet haben, die dort Zweifel an den segensreichen Wirkungen der EU gesät hat? Wird erwähnt, dass die EU-Instanzen zuweilen eher Marktfreiheiten als die Etablierung sozialer Mindeststandards stützen?

Wird skizziert, dass die ja zurecht eingeforderte Politik zur Bekämpfung des Klimawandels sozial flankiert werden muss, um gesellschaftliche Spaltungen nicht zu vertiefen? Wird angerissen, dass Digitalisierung ohne intervenierende Politik Strukturbrüche zeitigen kann?

Wird erörtert, dass die zurecht eingeforderte Freizügigkeit von Migration ohne kompensatorische Maßnahmen zu Mietauftrieb und Lohndruck führen kann? Werden neben reaktionären Tendenzen der Kirche auch reaktionäre Tendenzen des Islams verspottet?

Werden all solche Fragen im Allgemeinen aufgeworfen und an das Publikum im Besonderen gerichtet, das sich in diesen Verhältnissen einrichtet? Kaum. Selbstreflexive Kritik gibt es nur in überschaubarer Dosis. Selbstgefälligkeit bei den auftretenden Künstlern und im Publikum findet man hingegen allenthalben.

Nun soll man nicht ungerecht sein. Fragen wie die benannten sind nicht einfach zu beantworten. Die schnelle und fixe Lösung gibt es nicht. Die politische Einhegung der Ökonomie ist ein zähes Geschäft. Freizügigkeit und soziale Sicherheit sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eine plumpe Anti-EU-Haltung ist die falsche Antwort auf Spaltungen in und zwischen Nationalstaaten und auf falsche EU-Politik. Da es sich um gesellschaftliche Probleme handelt, führen zudem Vorwürfe, die Privilegierte hierfür in erster Linie persönlich verantwortlich machen, in eine Sackgasse.

Und doch könnten und sollten die zahlreichen sich alternativ wähnenden Personen im Publikum das Problem einer Gesellschaft, die immense Ungleichheit befördert und ihnen selbst hierin einen privilegierten Status zuweist, bei ihrem Hahaha und Applaus mehr reflektieren, als es praktisch der Fall ist.

Zur Vermeidung von Missverständnissen soll nicht unerwähnt bleiben, dass es auf der Stunksitzung tolle Sketche gibt; dass Köbes Underground schöne Auftritte hinlegt; dass die Kritik der Stunksitzung an konservativen Parteien und Instanzen zutreffend ist; dass die AfD im Saal zurecht als das benannt wird, was sie ist, nämlich eine unangenehme rechtspopulistische Partei, die an ihrem rechten Rand einen Ungeist wie Höcke unterstützt.

All das ist toll. Aber es ist eben nicht alles. Auch die Selbstgefälligkeit ist Teil des Ganzen – und Teil des Problems.

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