Juliane Werdings Lied “Am Tag, als Conny Kramer starb”, das den Tod eines Junkies beschreibt, erinnert mich zwar wehmütig an meine Jugend, aber seine Lyrics haben sich mir nicht ins Gedächtnis eingebrannt. Anders verhält es sich mit dem Original, auf dem Werdings Cover basiert: “The Night They Drove Old Dixie Down“ stammt von der US-kanadischen Gruppe “The Band”, wurde von deren Gitarristen Robbie Robertson komponiert und von deren Leadsänger Levon Helm prägnant besungen. Noch schöner ist die Interpretation von Joan Baez, die hier verlinke.
“The Night They Drove Old Dixie Down” thematisiert den US-Sezessionskrieg von 1861 bis 1865 aus der Perspektive des Südstaatensoldaten Virgil Caine. Dieser trägt seinen Namen nicht zufällig – vielmehr spielt er anlässlich des Bürgerkriegs zwischen unioniertem Yankee-Norden und konföderiertem Dixie-Süden auf die biblische Gestalt Kain an, die ihren Bruder Abel erschlagen hat.
Der Norden war die progressive Seite. Politisch trachtete er nach Abschaffung der Sklaverei und war an einer Stärkung moderner zentralstaatlicher Befugnisse interessiert, wohingegen der Süden Sklaverei und vormoderne Kleinstaaterei aufrechterhalten wollte. Ökonomisch war der Norden durch moderne Industrialisierung und kapitalintensive Produktivitätssteigerungen geprägt, während der Süden an vormoderner extensiver Förderung billiger Rohstoffe festhielt.
Folglich hätte ein typischer Politsong für den Norden Partei ergriffen. Das tut “The Night They Drove Old Dixie Down” aber nicht. Stattdessen präsentiert der Song die Sicht des proletarischen Südstaatensoldaten Caine, der nicht nur der unterlegenen Kriegspartei angehört und im Krieg Hunger erlitten, sondern auch noch seinen jungen Bruder verloren hat. Auch nach dem Krieg wird Caine zu geringem Lohn ausgebeutet und führt ein kärgliches Leben, doch trotz aller Verluste und Entbehrungen beklagt Caine vor allem, dass ihm sein Süden weggenommen wurde.
Dies hat dem Song bisweilen den Vorwurf eingehandelt, den reaktionären Süden hochleben zu lassen. Dieser Vorwurf trifft aber nicht zu, denn der Song beschönigt den Krieg nicht. Was ihm aber tatsächlich eigen ist, ist die wertungsfreie Schilderung proletarischer Bindung an reaktionäre Parteien, die es leider gibt. Caine steht für die proletarische Bindung an den reaktionären Süden.
Brecht textete im Solidaritätslied:
“Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber!
Endet ihre Schlächterein!
Reden erst die Völker selber,
Werden sie schnell einig sein.”
Doch so leicht ist es nicht, denn die Proletarier des Südens standen nicht nur auf einer anderen Seite als jene des Nordens, weil ihr Kapital und ihr Staat sie dazu zwangen, sondern auch, weil sie es leider selbst teils so wollten.
Umgekehrt haben Proletarier des Nordens in einer Bündniskonstellation mit Staat und Kapital im Norden auch deswegen gegen Proletarier des Südens kämpfen wollen, weil sie die Politik des Südens und somit auch die Einbindung der Südstaatenproletarier in diese Politik falsch fanden.
Um eine Wertung abzugeben: Steht uns der freiwillige Einsatz fürs Militär einer aggressiven und/oder reaktionären Partei auch sehr fern, so kann der freiwillige Einsatz auch von Lohnabhängigen fürs Militär einer angegriffenen und/oder progressiven Partei nachvollziehbar sein. So sah es auch Marx, der an Lincoln schrieb:
“Die Arbeiter Europas sind von der Überzeugung durchdrungen, daß, wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg eine neue Epoche der Machtentfaltung für die Mittelklasse einweihte, so der amerikanische Krieg gegen die Sklaverei eine neue Epoche der Machtentfaltung für die Arbeiterklasse einweihen wird. Sie betrachten es als ein Wahrzeichen der kommenden Epoche, daß Abraham Lincoln, dem starksinnigen, eisernen Sohn der Arbeiterklasse, das Los zugefallen ist, sein Vaterland durch den beispiellosen Kampf für die Erlösung einer geknechteten Race und für die Umgestaltung der sozialen Welt hindurchzuführen.”
Weitere (sonst sehr differente) historische Beispiele für Konstellationen, in denen Lohnabhängige an der Seite anderer Schichten und Klassen des eigenen Landes gegen andere Parteien oder gar Nationen militärisch gekämpft haben, sind die Kämpfe der Republikaner gegen die Falangisten im spanischen Bürgerkrieg 1936-39, die Kämpfe der Alliierten gegen die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg 1939-45, die Kämpfe der Vietcong gegen die USA 1964-75 oder 1978-79 gegen die Roten Khmer Kambodschas.
Nun ist die russische Konföderation unter Putin zwar ein autoritäres Regime auf Basis eines Crony-Kapitalismus, aber faschistisch wie die Falange oder nationalsozialistisch wie das Dritte Reich ist die russische Konföderation nicht. Auch ist sie kein staatsterroristisches Regime wie die Khmer-Regierung. Die russische Konföderation ist aber der Aggressor im Konflikt mit der Ukraine, und sie geht in neozaristischem Gewand imperial-expansiven Motiven nach.
Insofern ist es verständlich, dass ukrainische Lohnabhängige sich in die Verteidigungskämpfe gegen die russische Konföderation einreihen – auch wenn in der Ukraine wahrlich nicht alles gold ist, was orange glänzt. Ich richte daher zwar nicht den Stab über jene, die desertieren, geselle mich aber auch nicht an die Seite jener, die nach Kapitulation der Ukraine rufen.
Jeder Tag länger, in denen Kombattanten kämpfen und fallen, ist einerseits ein trauriger Tag, zumal in der Tat unter den Opfern auf beiden Seiten nicht selten diejenigen überproportional vertreten sind, die bis auf ihre Arbeitskraft wenig an den Füßen haben. Andererseits ist es aber auch schwer erträglich, einer illegitimen Aggression nichts entgegenzusetzen.
Kurzum: Die Trostlosigkeit, Ungerechtigkeit und Härte, mit denen insbesondere Lohnabhängige auf allen Seiten in Kriegen konfrontiert werden, müssen als tragische Wahrheit ausgesprochen werden. Denn wer tot ist, ist unwiderruflich tot:
“You can’t raise a Caine back up when he’s in defeat”.
Diplomatie und Kriegseindämmung müssen immer Vorrang haben. Doch das heißt eben nicht, dass auch jede Beteiligung an militärischen Aktionen progressiver und/oder attackierter Parteien per se falsch sein muss.
Bild: Rainer Lewalter