Kurzkritik an Lenins Imperialismustheorie

Kommt es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten, nehmen Teile des marxistischen Lagers bei ihrer Analyse gerne Rückgriff auf Lenins Imperialismustheorie.

Lenin gab 1917 in seinem Werk “Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus” folgenden Versuch einer Erklärung ab:

“Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.” (LW 22, S. 271)

Doch stimmen die Thesen? Gehen wir Schritt für Schritt vor.

“1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen” (ebenda, S. 270 f.)

Cavalleri et al. widersprechen in einem Papier von 2019: “Insgesamt zeigt unsere Analyse, dass die Wettbewerbsintensität im Euroraum (gemessen an den vier größten Volkswirtschaften: Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien) im Gegensatz zu den Trends in den USA (vielleicht überraschend) relativ stabil geblieben ist. Dies ist ein Merkmal sowohl der Makro- als auch der Mikrodaten.”

“2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‘Finanzkapitals'” (LW 22, S. 271)

Lenins These war, dass die Industrieunternehmen immer mehr den Banken gehören würden. Diese These krankt an vier Aspekten: Erstens gehören alle Unternehmen, die Eigentümer anderer Unternehmen sind, ihrerseits irgendwann natürlichen Personen. Zweitens ist es sehr unklar, wie die Anteile unter all diesen natürlichen Personen weltweit verteilt sind. Drittens ist es unklar, wer das Sagen hat: Die Anteilseigner im Sinne des Shareholder-Value-Ansatzes? Welche davon? Oder die Manager im Sinne der Managerial-Capitalism-Ansatzes? Welche? Und: Welche Rolle haben die Banken? Viertens ist der Anteil der Beteiligungen von Banken an anderen Unternehmen zwischen in D vom Indexwert 100 auf knapp über 95 gesunken. Von einer ewigen Verschmelzungstendenz kann keine Rede sein. Und auch die Anteile der Banken untereinander sind in D entflochten worden.

“3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung” (LW 22, S. 271)

Lenin ist hier einerseits begrifflich ungenau, denn er meint nicht Kapitalexport, sondern ausländische Direktinvestitionen (ADI), die nur einen Teil der Kapitalexporte ausmachen. Diese begriffliche Unschärfe ist Ausdruck seiner inexakten Erfassung dessen, was passiert. Wenn ein Land Waren oder DL exportiert, erwirbt es eine Kaufpreisforderung gegenüber dem importierenden Land. Das ist bereits von Anfang an ein Kapitalexport in Form einer Forderung.

Soll die Forderung beglichen werden und lautet sie auf die Währung des Exportlandes, muss der Importeur sich diese gegen seine eigene Währung besorgen. Das Exportland erhält also Devisen durch Währungstausch. Lautet die Forderung auf die Währung des Exportlandes, zahlt der Importeur direkt mit seiner eigenen Währung. Das Exportland erhält also Devisen durch Rechnungsbegleichung. Beide Male werden Devisen akkumuliert, die i.w.S. zu den Kapitalexporten zählen.

Dass die Waren-/DL-Exporte Kapitalexporten korrespondieren, ist also logisch. Nun ist die Frage, was mit den angehäuften Devisenbeständen oder bei Nichtbegleichung mit den angehäuften Forderungen passiert. Werden diese im Rahmen eines Aktivtausches dazu verwendet, sich an ausländischen Unternehmen zu beteiligen, kommt es zu ADI. Dass also ein Land, das mehr Waren und DL exportiert, als es sie importiert, tendenziell auch mehr ADI tätigt, als bei ihm getätigt werden, liegt auf der Hand. Dass anstelle reiner Devisenakkumulation auch ADI stattfinden, ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht logisch und kein so besonderes Phänomen, das Imperialismus zwingend zur Folge haben müsste.

“4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen” (LW 22, S. 271)

Da die Konkurrenz zwar durch partielle Konzentrationsprozesse modifiziert, aber eben nicht aufgehoben wird, kommt es auch nicht einfach zu monopolistischen Kapitalistenverbänden, weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene. Sowohl zwischen Großunternehmen und KMU als auch unter Großunternehmen gibt es Konkurrenz neben Verbandswesen. Die Beziehung über Ländergrenzen hinweg ist kompliziert. Ob Loyalitäten zwischen Unternehmen überhaupt existieren und, wenn ja, ob sie sich eher am Land oder an der Unternehmensform festmachen, ist unklar.

“5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet” (LW 22, S. 271)

Auch hier liegen mehrere Missverständnisse bei Lenin vor. Der Staat ist eben nicht einfach, wie es Marx nur in seinen Frühschriften geschildert hat, das Instrument der herrschenden Klasse, sondern vielmehr mit Poulantzas

“die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt”. Daher ist der Staat mit seiner Ausrichtung auch umkämpfbar.

Ergo sind die Staaten auch nicht simple Spielbälle von Großkonzernen. Weder wird die ökonomische Welt einfach unter Konzernen aufgeteilt noch die territoriale Welt unter Staaten, die den Konzernen willfährig ergeben sind.

Und weil das alles so ist, ist es auch gerade nicht schlüssig, von vermeintlicher Monopolisierung auf vermeintliche Verschmelzung, auf vermeintlich besondere Kapitalexporte, auf vermeintlich ökonomisch geplante Marktaufteilung und auf vermeintlich politisch geplante Territorialaufteilung zu schließen.

Kurzum: Kurzschlüsse sind nicht zu empfehlen.


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