The Sound of Silence und Schritt für Schritt ins Paradies

Bevor ich mich gedanklich dem wichtigen vorletzten Spiel des FC in dieser Saison widme, verliere ich einige Worte zu zwei schönen Liedern.

Das erste ist The Sound of Silence” von Simon & Garfunkel. Es thematisiert die Schwierigkeit von Menschen, wahrhaftig, ernsthaft und leidenschaftlich miteinander zu kommunizieren. Die Kernthese: Der eine redet, ohne wirklich etwas zu sagen; der andere hört, ohne wirklich verstehend zuzuhören – “People talking without speaking, / People hearing without listening”.

Diese Sprachlosigkeit wird im Lied als “sound of silence” benannt. Es handelt sich also nicht um akustische, sondern um semantische Stille. Menschen verstehen zwar Worte ihrem Klang nach, aber nicht mehr deren wirkliche Bedeutung.

Emblematisch für dieses Phänomen einer semantischen Stille steht im Lied das Neonlicht. Das Neonlicht einer Laterne ist zum einen der erste Ort, an dem das lyrische Ich die semantische Stille wahrnimmt. Das Neonlicht wird zum anderen metaphorisch als Zeitgeist beschrieben, der die Botschaft der semantischen Stille auf Wände in privaten und öffentlichen Orten schreibt.

Im Lied ist sogar von einem Neongott die Rede. Dieser ist aber nicht als schaffender Gott zu verstehen, sondern als gesellschaftliches Ergebnis der Menschen selbst, die durch ihr Handeln semantische Stille produzieren und deren Handeln zugleich durch semantische Stille geprägt wird. Der Neongott ist also ein Zeitgeist, und die Menschen selbst sind seine Propheten:

And the people bowed and prayed
To the neon god they made.
And the sign flashed out its warning
In the words that it was forming.
And the sign said, “The words of the prophets
Are written on the subway walls
And tenement halls
And whispered in the sounds of silence”.

Ich übersetze es so:

Und die Menschen verneigten sich und beteten
Zum Neongott, den sie hervorbrachten.
Und das Lichtzeichen warf seine Warnung
In den Worten aus, die es formte.
Und das Lichtzeichen sagte: “Die Worte der Propheten
Stehen geschrieben auf den U-Bahn-Wänden
Und den Mietskasernen
Und werden geflüstert in den Klängen der Stille”.

Die Figur des kalten Neonlichts steht sinnbildlich für die Moderne – insofern ist das Lied auch eine Kritik an der Moderne. Unklar ist, ob es auch eine Kritik ist an der kapitalistischen Produktionsweise als zentralem Steuerungsmodus der Moderne mit Profitstreben und Konkurrenz. Zwar muss die kapitalistische Produktionsweise nicht zwingend gegen Verständigung und Emotionalität stehen, aber sie ist blind hierfür.

Daher begünstigt die kapitalistische Produktionsweise eine Entwicklung, in der die Menschen die Bedeutung des Tuns und Redens der anderen nicht gut verstehen. Doch es sind nicht nur Privateigentum an Produktionsmitteln, Profitstreben und Konkurrenz, die semantische Stille gesellschaftlich produzieren. Hinzu kommen Arbeitsteilung und Effizienzsteigerungen, die den Menschen zwar mehr freie Zeit gewähren, aber nicht die automatische Fähigkeit, in dieser freien Zeit Sinn zu verstehen.

Denn da semantische Stille nicht nur durch Menschen hergestellt wird, sondern auch deren Handeln prägt, sind Versuche, gegen den Zeitgeist Verständigung zu erzielen, vom Scheitern bedroht. Auch das lyrische im Lied startet im Lied einen Versuch echter Kommunikation mit den anderen Menschen, die ihrer Fähigkeit zur Verständigung beraubt sind, und dringt damit nicht durch:

“(…) Hear my words that I might teach you,
Take my arms that I might reach you”.
But my words like silent raindrops fell
And echoed in the wells of silence.

Ich übersetze es so:

“(…) Hör’ meine Worte, damit ich dich lehren kann,
Nimm meine Arme, damit ich dich erreichen kann”.
Aber meine Worte fielen wie stille Regentropfen
Und riefen ein Echo in den Brunnen der Stille hervor.

Auch das Lied “Schritt für Schritt ins Paradies” von Rio Reisers Band Ton Steine Scherben zeichnet wie The Sound of Silence” ein pessimistisches Bild von einer Gesellschaft, die durch Angst gekennzeichnet ist. Doch anders als The Sound of Silence” präsentiert der Text in “Schritt für Schritt ins Paradies” ein Remedium gegen semantische Stille, nämlich Liebe in Zweisamkeit, die als paradiesischer Zustand apostrophiert wird. Diese Liebe vermag es, so das lyrische Ich, die semantische Stille zu durchbrechen.

Du hörst mich singen, aber du kennst mich nicht.
Du weißt nicht, für wen ich singe, aber ich sing für dich.
Wer wird die neue Welt bauen, wenn nicht du und ich?
Und wenn du mich jetzt verstehen willst, dann verstehst du mich.

So wie The Sound of Silence” ein Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise implizieren kann, aber nicht muss, können die Worte in “Schritt für Schritt ins Paradies” als Aufruf für eine nachkapitalistische, paradiesische Welt gedeutet werden, ohne zwingend hierfür zu stehen. Denn auch eine Gesellschaft ohne dominantes Privateigentum an Produktionsmitteln, Profitstreben und Konkurrenz kennt Arbeitsteilung und Effizienzsteigerungen, die das Verständnis von Sinn und Bedeutung erschweren.

“Schritt für Schritt ins Paradies” richtet den Blick auf die Möglichkeit privaten Glücks, welches in einer kleinen Welt Verständigung ermöglicht und damit aufzeigt, dass Verständigung auch in der großen Welt machbar ist. Dies setzt jedoch neben anderen Eigentumsformen auch neue Modi der Kommunikation in freier Zeit voraus. Ob solche neuen Modi in der großen Welt ihrerseits dazu beitragen können, Verständnisprobleme zu reduzieren in der kleinen Welt des Privaten, die keineswegs immer und dauerhaft Glück garantiert, bleibt eine offene Frage.


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