Vielleicht zieht die LINKE morgen entgegen den Umfragen doch in den NRW-Landtag ein. Mich würde es freuen. Doch wie das Ergebnis auch sein wird: Danach wird eine schwierige und existentiell wichtige Phase eingeläutet werden, in der die Partei sich häuten und ihre bisherige Uniform zerreißen muss. Dazu mache ich zehn kurze Bemerkungen.
1.) Die Partei muss anstelle der aktuell obwaltenden Tribalisierung durch verschiedene Teilgruppen ein innerparteiliches Zentrum entwickeln, das die Partei vorantreibt. Das Zentrum muss sich nicht anfänglich intern einig sein und kann sich streiten, aber Ziel muss es sein, common sense in der Partei herzustellen.
2.) In Fragen von Bedeutung muss das innerparteiliche Zentrum klug und mutig Positionen neu erarbeiten, die einen hinreichend großen Anteil der Mitgliedschaft und einen genügend großen Teil der Wähler überzeugen. Diese Positionen müssen künftig Selbstverständnis und Außendarstellung der Partei prägen.
3.) Auszutarieren sind nicht so sehr die Befindlichkeiten und Interessen verschiedener Gruppen in der Partei, sondern vor allem die Widersprüche, Zielkonflikte und Trade-Offs, die in den Sachfragen selbst liegen.
4.) Genoss/innen des innerparteilichen Zentrums müssen sich der Widersprüche, Zielkonflikte und Trade-Offs in Sachfragen bewusst sein. Zudem müssen sie in der Lage sein, mit Zorn die unzureichenden Positionen der Partei und auch ihrer eigenen Person in Sachfragen anzuerkennen.
5.) Die neue Erarbeitung von Positionen muss nicht identisch sein mit der Erarbeitung neuer Positionen, kann es aber und muss es auch in etlichen Fällen. Wo bisherige Positionen bestätigt werden, müssen sie besser begründet und konturiert werden. Wo bisherige Positionen revidiert werden, müssen die neuen Positionen auf Höhe der Zeit sein.
6.) Auf Höhe der Zeit zu sein heißt: Anstatt auf bloßem Glauben oder reinem Interesse zu beruhen, müssen Positionen empirisch oder theoretisch schlüssig begründet werden. Zudem sind nicht nur die innerparteilichen Auffassungen, sondern auch die Wähleransprüche mitzudenken. Klar anzuerkennen ist, dass unser bisheriges Politikangebot die Bevölkerung nicht überzeugt und auf den Prüfstand gehört.
7.) Dem innerparteilichen Zentrum müssen Genoss/innen angehören, die Zweifel in der Sache zulassen und zaudern; die Zweifel als produktive Ressource für die neue Erarbeitung von Positionen nutzen, über den eigenen Tellerrand hinausblicken und die neue Erarbeitung von Positionen gründlich angehen, anstatt allzu schnell neue Ziele auszugeben; die schließlich den Mut haben, die neu erarbeiteten Positionen überzeugend nach außen zu vertreten.
8.) Genoss/innen im Zentrum können jung oder alt und mehr oder weniger erfahren sein, aber von der inneren Haltung her müssen sie frisch und bereit sein, ihren bisherigen verhärteten Willen zugunsten eines Willens aufzugeben, der ergebnisoffen wie Wachs, aber nicht opportunistisch ist. Sie können unterschiedlichen gesäßgeographischen Strömungen angehören, aber müssen der Suche nach Wahrheit anstatt der Statussicherung von Strömungen verpflichtet sein.
9.) Genoss/innen im Zentrum können meinetwegen in der, mit der und durch die Partei Karriere machen, aber das Streben nach Karriere darf nie, wirklich niemals im Vordergrund stehen.
10.) Tocotronic haben recht:
Im Zweifel für den Zweifel,
Das Zaudern und den Zorn,
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform,
Im Zweifel für Verzärtelung
Und für meinen Knacks,
Für die äußerste Zerbrechlichkeit,
Für einen Willen wie aus Wachs,
Im Zweifel für die Zwitterwesen
Aus weit entfernten Sphären,
Im Zweifel fürs Erzittern
Beim Anblick der Chimären.