Das Roger-Waters-Konzert in Köln: schrecklich schön und ganz schön schrecklich

Regen lautete das Programm, das der Wettergott am 9. Mai 2023, dem Tag des Roger-Waters-Konzerts, für Köln ausgesucht hatte. Und so war es den Zuschauern nicht vergönnt, bei Sonnenschein auf der Wiese zu sitzen, um über ältere und jüngere Songs von Waters, seine Zeit mit und nach Pink Floyd, seine Musik und seine Politik zu räsonieren.

Drei kleine Grüppchen auf dem Vorplatz

Das Alternativprogramm war klar: Ab in die Warteschlange, um so schnell wie möglich in der Arena dem Regen zu entgehen! In der Warteschlange bekam man einen Blick auf den Vorplatz der Arena, auf dem sich drei Grüppchen positioniert hatten. Auf der einen Seite stand eine Gruppe von wenigen Personen, die wie Waters “Freiheit für Julian Assange!” forderte, sowie eine Gruppe von nur wenig mehr Personen, die Waters für seine propalästinensische Haltung im Nahostkonflikt dankte.

Auf der anderen Seite befand sich eine Gruppe von auch nicht besonders vielen Personen, die Kritik an Waters’ Haltungen übte. Sie hielt ein Plakat mit der Aufschrift “Free Gaza from Hamas!” hoch, um zu kritisieren, dass Waters bei seinen Stellungnahmen zum Nahostkonflikt die Rolle von aggressiven Organisationen wie Hamas oder Hizbollah ausspart – eine Kritik, die ich nachvollziehbar finde. Überdies warf diese Gruppe Waters mithilfe vom Band abgespielter Redebeiträge vor, für Rassismus offen zu sein und im Hinblick auf die Geschichte von NS und Faschismus eine fragwürdige zeitgenössische Person zu sein. Diese Kritik an Waters zielt jedoch, wie noch kurz zu erläutern sein wird, ins Leere. Wer Waters kritisieren möchte, sollte woanders ansetzen.

Halle, Sound, Musik

Mehr als 10.000 Zuschauer waren gekommen, um sich Roger Waters‘ Auftritt in der LanxessArena anzuschauen. Die Bude war also ziemlich voll. Waters und seine Band spielten auf einem kreuzförmig angeordneten Plateau, so dass das ganze Rund der Halle mal einen besseren, mal einen schlechteren Blick auf die Darbietung erlangen konnte.

Wie eigentlich immer bei Waters-Konzerten war die Akustik blendend und bot die Show opulente Bilder. Waters sang gut und die Backgroundsängerinnen waren vorzüglich. Die Performance von Waters und Band an Piano und Keyboard, Gitarre und Bass sowie Drums und Saxofon war exzellent. Musikalisch ließ das Konzert also wenig Wünsche offen.

Waters als Storyteller des Individuellen

Schon bei Pink Floyd, aber auch in seinem Solowerk war es eine Stärke von Roger Waters, im Mahlstrom persönlicher Lebensgeschichten den Blick auf die Kategorie des Momentums zu richten, verstanden im doppelten Sinne: als Augenblick und als Impuls, der die Bahnen von Biografien in Richtungen lenkt. Als Waters schilderte, wie sein ehemaliger Bandkollege Syd Barrett und er einst auf der Rückfahrt von einem Konzert in den 60ern mit den Rolling Stones ganz unvermittelt den Beschluss fassten, später gemeinsam eine Band zu gründen, nämlich Pink Floyd, spürte man die Bedeutung spontaner Entscheidungen fürs Leben. Erzählte Waters, wie Barrett sich Jahre später zu Zeiten des aufkommenden Pink-Floyd-Erfolgs auf einem Gig plötzlich desorientiert in Las Vegas wähnte, obwohl der Aufritt in Los Angeles war, und wie Barretts mentale Verfassung durch den Anblick vieler Menschen von einem auf den anderen Moment ins Düstere umschlug, erlangte man einen Eindruck von der Flüchtigkeit des Wohlbefindens. Und sang Waters davon, wie schnell das Glück eines Individuums durch Ereignisse seiner Umgebung gefährdet werden und ein vormals zufriedenes Individuum sich allein und verlassen fühlen kann, hatte das etwas Berührendes an sich.

Diesen Grundansatz transportierte er auch in seine Lieder. Die von Waters getexteten und mitkomponierten Stücke “Shine On You Crazy Diamond” und “Wish You Were Here” waren wunderbar dargebotene Oden an die Freundschaft zu Syd Barrett, der als kreativer Komponist und Gitarrist 1967 schnell zum Pink-Floyd-Star aufstieg, aber die Band genauso rasch aufgrund psychischer Probleme und exzessiven Drogenkonsums 1968 verlassen musste. Die Schwierigkeiten und Gefährdungen des Individuums in der Gesellschaft zeigten sich auch in anderen Liedern, die Waters an diesem Abend spielte. “Comfortably Numb”, “The Happiest Days of Our Lives”, “Another Brick in the Wall”, “In the Flesh” und “Run Like Hell” entstammen allesamt dem Pink-Floyd-Konzeptalbum “The Wall”, welches die Geschichte des Musikers Pink erzählt, der sich infolge negativer Lebenserfahrungen in Familie, Liebe und Schule durch eine imaginäre Mauer emotional einkapselt, um sich von seiner Umwelt mehr und mehr abzugrenzen und zu schützen.

“Us and Them” vom Album “The Dark Side of the Moon” thematisierte, wie Individuen, ohne zuvor gefragt worden zu sein, in Kriege geschickt werden, durch Anordnung der Armeen einander feindlich gegenüberstehen und sich gegenseitig töten können. Passend dazu wurden im Konzert zum Waters-Lied “The Powers That Be” Bilder von Personen gezeigt, die schuldlos durch Kriege aus dem Leben gerissen wurden, und Fotos von Personen aufgeblendet, die durch willkürliche Gewaltanwendung staatlicher Apparate plötzlich ihr Leben verloren. Persönlich geriet Waters‘ Song “The Bar (reprise)”, dessen Zeile “sad-eyed lady, big brass bad” dem Dylan-Song “Sad Eyed Lady of the Lowlands” entlehnt ist. Mit diesem Song drückte Waters, der schon als einjähriger Junge seinen im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vaters verlor, zweierlei aus: zum einen seine vorgebliche Haltung gegen Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit; zum anderen seine Dankbarkeit gegenüber seiner Ehefrau und seinem kürzlich verstorbenen Bruder, die für Waters persönliche Trutzburgen gegen die Unbilden des Lebens waren bzw. sind. Kurzum: Als musikalischer Interpret, der die Aspekte von Glück und Leid im Leben von Individuen schilderte, bot Waters eine schrecklich schöne Show.

Waters’ politische Inszenierung

Doch das Konzert hatte bisweilen auch ganz schön schreckliche Seiten. Waters beschränkt sich nicht nur darauf, das Leben von Individuen in der Gesellschaft zu skizzieren, sondern er möchte mit seiner Musik und Inszenierung auch die ganze Gesellschaft politisch einordnen und analysieren. Dabei spreche ich Waters nicht ab, dass es ihm mit seiner Haltung gegen Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit ernst ist. Seine Lyrics, seine Ansprachen und seine Einblendungen lauteten: „Widersteht dem Kapitalismus!“, „Widersteht dem Faschismus!“, „Widersteht dem Militarismus!“ und „Widersteht dem Krieg!“. Er wandte sich gegen Rassismus, plädierte für das Frauenrecht auf Abtreibung und für die Rechte von Transpersonen. Auch ließ Waters Sophie Scholl und Anne Frank als Symbolgestalten hochleben. Daher ist es für mein Befinden falsch, Waters zu unterstellen, für Rassismus offen zu sein und im Hinblick auf die Geschichte von NS und Faschismus eine fragwürdige zeitgenössische Person zu sein.

Doch gut gemeint ist eben nicht gut gemacht. Das zeigte sich schon zu Beginn des Konzerts, als Waters vom Band ohne einen Hauch von Selbstkritik auf Englisch verlauten ließ: „Ein Gericht in Frankfurt hat entschieden, dass ich kein Antisemit bin. Exzellent!“, was sachlich unzutreffend ist, da das Gericht lediglich geäußert hatte, dass beim Konzert nicht mit Volksverhetzung und der Verwendung verfassungswidriger Symbole zu rechnen sei. Diese problematische Haltung setzte sich fort, als Waters wenig später auf Englisch einblenden ließ: „Wenn ihr einer der ‚Ich liebe Pink Floyd, aber ich kann Rogers Politik nicht ausstehen‘-Leute seid, tut ihr gut daran, euch jetzt an die Bar zu verpissen.“ Nun ließe sich einwenden, dass Waters im Laufe des Konzerts die Bedeutung des Begriffs der Bar veränderte und die Konzerthalle zu einem Forum Romanum stilisierte, in dem Befürworter wie Gegner von Waters‘ Positionen in den Dialog treten sollten. Doch wie ernsthaft ist ein solcher Ansatz, wenn Waters sich erstens weigert, sich mit Kritik an seinen Positionen auseinanderzusetzen, und zweitens mit seiner einseitigen und realitätsblinden propalästinensischen Haltung wieder und wieder Künstler aggressiv davon abzuhalten versucht, in Israel aufzutreten? Wer hier Zweifel an Waters‘ Ernsthaftigkeit hegt, dürfte richtig liegen. Und dass Roger Waters als Kritiker Israels, das doch als “Staat der Juden” in Nachfolge von exterminatorischem Antisemitismus und NS entstanden ist, ausgerechnet Sophie Scholl und Anne Frank zu Kronzeugen seines Anliegens macht, bereitet Bauchschmerzen.

Das Weltbild, das Roger Waters durch seine Inszenierung zum Ausdruck brachte, war simpel und teilweise falsch: Die Welt wurde gezeigt als westlich-bürgerliche mit Kapitalismus, die nah am Faschismus sei. Eine Schilderung der Dialektik der Aufklärung vernahm man bei Waters nicht – darüber, dass der Faschismus zwar aus der bürgerlichen Gesellschaft entstehen kann, sich aber in seinen Grundzügen von ihr mit ihren bürgerlichen Freiheiten fundamental unterscheidet, verlor Waters kein Wort. Dollarscheine figurierten im Waters-Song “Money” vom Album “The Dark Side of the Moon” nur als Sinnbild der Prasserei von Reichen. Dass Geld als “allgemeines Äquivalent” eine notwendige soziale Form der bürgerlichen Verkehrsverhältnisse ist, fiel hinunter. Regierungen und Staatsorgane wurden im Lied “Sheep” vom Album “Animals” musikalisch und bildhaft als Schweine vorgestellt, die als Instrument kapitalistischer Hunde dienen, während die Mehrzahl der Wähler als brave Schafe dargestellt wurde. Dass indes westliche Regierungen demokratisch gewählt werden und der Staat eine materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen ist, die offen auch für den Eingang der Interessen von Lohnabhängigen ist, fand in Waters‘ Erzählung keinen Platz. Dem Einwand gegen das just Geschriebene, Popsongs vermöchten keine elaborierten Gesellschaftsanalysen zur bürgerlichen Gesellschaft, ihren Formen, Organen und Verkehrsweisen zu liefern, würde ich sofort zustimmen. Aber wenn dem so ist, sollte man die Gesellschaftsanalyse besser ganz lassen. Wer hingegen wie Waters nur einseitig Fragmente oder gar Falsches präsentiert, muss sich Kritik gefallen lassen.

Dies gilt auch für Waters’ Haltung zum Nahostkonflikt: Offener antiisraelischer Hetze enthielt sich Waters an diesem Abend. Mit Pali-Tuch um den Hals positionierte er sich aber gegen den Umstand durch Israel kontrollierter Territories und gegen Gewaltanwendungen durch den israelischen Staat. Dass Israel seinerseits durch umliegende Staaten und Terrormilizen bedroht und attackiert wird und Gewalt auch reaktiv auf zuvor verübte gegnerische Gewalt anwendet, war Waters hingegen keine Rede wert. Auch Waters‘ Position zum Ostwestkonflikt ist platt, verzerrt und falsch. Die US-Präsidenten Reagan, Obama, Trump wurden verzerrend als bisherige, Biden als vermutlich künftiger Kriegsverbrecher dargestellt. Die Regierungen in Russland, Iran und Syrien wurden hingegen von Kritik verschont: kein Bild von Putin, Raisi und Assad. Kritisches zum Terror von Hamas und Hizbollah, Al-Qaida und IS hörte man ebenso wenig. Auch hier war Waters der übliche Meister im Zeichnen einseitiger und verzerrter Bilder.

Mit dieser Kritik an Waters‘ Inszenierung sollen Westen, bürgerliche Gesellschaft und Kapitalismus nicht schönfärberisch dargestellt und simpel als beste aller möglichen Welten” (Leibniz) präsentiert werden. Denn es ist eine zutreffende Feststellung von Waters, dass es im kapitalistisch dominierten Weltsystem Ungleichheit und Ungerechtigkeit gibt; schroffe Gegensätze zwischen Arm und Reich; Gewalt und Krieg; Hunger und Not. Zutreffend ist auch Waters‘ Schilderung, dass es westliche Kriegsverbrechen gab und gibt. Dass er auf all dies hinwies, ist ihm daher nicht zum Vorwurf zu machen. Zum Vorwurf ist ihm zu machen, dass seine Erzählung den kontrafaktischen Eindruck vermittelt, als habe es gescheiterte Versuche nicht-kapitalistischer Staaten mit ökonomischen Problemen, Demokratiedefiziten und Menschenrechtsverletzungen sowie antiimperialistischen Terror nie gegeben; als gebe es keine nicht vom Westen begonnenen Kriege, obwohl doch Russlands Angriffskrieg die Wahrheitswidrigkeit dieser These deutlich manifestiert; als sei der Westen immer Verursacher und Auslöser von Weltproblemen.

Und nun?

Von Waters‘ politischem Auftreten war ich nicht begeistert; vielmehr fand ich es wie geschildert bisweilen ganz schön schrecklich, wenngleich ich zugestehe, dass es die ganz schrillen Töne nicht gab und das fliegende Schwein vom Album “Animals” keinen Judenstern trug. Waters‘ Musik und seine ins Persönliche gehenden Texte fand ich schrecklich schön und berührend. Wie nennt man das? Vermutlich mixed emotions”.

Sind die Besucher des Waters-Konzerts “die Unpolitischen”, die unisono Waters unkritisch betrachten und von ihm “in Geiselhaft” genommen werden, wie es Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger schreibt? Ich meine: nein, das ist nicht zwingend so.

  1. Es ist möglich, Waters‘ Musik und seine aufs Individuelle zielenden Texte grandios zu finden und zugleich seine politische Inszenierung zu kritisieren.
  2. Waters ist kein Faschist, Rassist und auch kein klassisch-antijudaischer Antisemit. Sein antizionistisches Weltbild ist aber leider von Vorurteilen und Ressentiments gegenüber dem israelischen Staat und dessen Bürgern geprägt.
  3. Ich erkenne selbstverständlich an, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt und meine Mixtur aus westlich-liberalem Sozialismus, Postkeynesianismus und Gewogenheit gegenüber dem Zionismus nicht von allen geteilt werden muss. Selbstüberhöhung und Hybris sind falsch.
  4. Es ist selten etwas dadurch gewonnen, wenn gefordert wird, Veranstaltungen von Künstlern mit Positionen, die man selbst grundfalsch findet, abzublasen, denn dadurch verschwindet keine problematische Sichtweise, Haltung und Politik.
  5. Vorurteile und Ressentiments gegenüber dem israelischen Staat und dessen Bürgern gibt es bei Waters nicht erst seit ein paar Jahren, sondern sie sind seit jeher in seinem Werk angelegt. Es wäre daher gut, wenn die Kritik an Waters‘ politischem Ansatz integral erfolgen würde.
  6. Vorurteile und Ressentiments gegenüber dem israelischen Staat und dessen Bürgern gibt es in konservativen und liberalen Parteien – zumeist mit christlich-konservativer Grundierung – sowie in linken Parteien – zumeist im Gewand von Antiamerikanismus, personalisiertem Antikapitalismus und Antiimperialismus. Wer Waters‘ politisch kritisiert, sollte auch die Probleme in den eigenen Organisationen kritisieren.

Setlist

  1. Comfortably Numb [Pink-Floyd-Song, 2022er-Version, The Wall]
  2. The Happiest Days of Our Lives [Pink-Floyd-Song, The Wall]
  3. Another Brick in the Wall, Part 2 [Pink-Floyd-Song, The Wall]
  4. Another Brick in the Wall, Part 3 [Pink-Floyd-Song, The Wall]
  5. The Powers That Be [Radio K.A.O.S.]
  6. The Bravery of Being Out of Range [Amused to Death]
  7. The Bar [Noch kein Album]
  8. Have a Cigar [Pink-Floyd-Song, Wish You Were Here]
  9. Wish You Were Here [Pink-Floyd-Song, Wish You Were Here]
  10. Shine On You Crazy Diamond, Parts VI-VII und V [Pink-Floyd-Song, Wish You Were Here]
  11. Sheep [Pink-Floyd-Song, Animals]
  12. In the Flesh [Pink-Floyd-Song, The Wall]
  13. Run Like Hell [Pink-Floyd-Song, The Wall]
  14. Déjà Vu [Is This the Life We Really Want?]
  15. Déjà Vu (Reprise) [Is This the Life We Really Want?]
  16. Is This the Life We Really Want? [Is This the Life We Really Want?]
  17. Money [Pink-Floyd-Song, The Dark Side of the Moon]
  18. Us and Them [Pink-Floyd-Song, The Dark Side of the Moon]
  19. Any Colour You Like [Pink-Floyd-Song, The Dark Side of the Moon]
  20. Brain Damage [Pink-Floyd-Song, The Dark Side of the Moon]
  21. Eclipse [Pink-Floyd-Song, The Dark Side of the Moon]
  22. Two Suns in the Sunset [Pink-Floyd-Song, The Final Cut]
  23. The Bar (Reprise) [Noch kein Album]
  24. Outside the Wall [Pink-Floyd-Song, The Wall]

 

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